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16. Januar 2014, von Michael Schöfer
Soziale Abwärtsspirale


Europa stehe für sieben Prozent der Weltbevölkerung, 25 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung und 50 Prozent der weltweiten Sozialleistungen, deshalb hätte die Europäische Gemeinschaft nur zwei Möglichkeiten: "Schrumpfen oder reformieren", glaubt der britische Schatzkanzler George Osborne. [1] Auch Frankreichs Präsident François Hollande hat gerade eine 180-Grad-Wende hingelegt und verspricht nun der Wirtschaft Steuererleichterungen. Außerdem will er die öffentlichen Ausgaben zwischen 2015 bis 2017 um 50 Mrd. Euro kürzen, die Lohnnebenkosten massiv senken und natürlich die Bürokratie abbauen. Das volle neoliberale Programm also. Im Gegenzug erhofft er sich von den Unternehmen die Schaffung von Arbeitsplätzen. [2] Wohin das führt, dürfte klar sein: Zu Reformen à la "Agenda 2010". Gerhard Schröders Umbau des Sozialstaats gilt mittlerweile vielen als nachahmenswertes Vorbild. Er habe damals den "kranken Mann Europas" wieder gesund gemacht, heißt es allenthalben.

Die Deutschen fühlen sich, alldieweil ringsherum ganze Volkswirtschaften den Bach runter gehen, als Gewinner, doch der Schein trügt. Als der "Genosse der Bosse" im März 2003 seine berühmt-berüchtigte Agenda-Rede hielt, lag der Reallohnindex bei 102,1 Punkten, im Jahr 2012 waren es im Jahresdurchschnitt 101,7 Punkte. [3] Da der Reallohnindex in den ersten drei Quartalen 2013 bislang unter den Werten des Jahres 2012 liegt (die Zahlen des vierten Quartals 2013 liegen noch nicht vor) [4], dürften die Reallöhne auch im vergangenen Jahr kaum gestiegen sein. Zumindest den Arbeitnehmern geht es folglich schlechter als vor 10 Jahren. Und unter dem glänzenden Lack nagt der Rost: "Im Inland investierten Unternehmen und Staat [im Jahr 2013] zusammen 2,2 % weniger in Maschinen und Geräte sowie Fahrzeuge als ein Jahr zuvor. Auch die preisbereinigten Bauinvestitionen gingen zurück, aber nur um 0,3 %." [5] Eine gefährliche Entwicklung, die seit Jahren anhält. Die deutsche Investitionsquote lag 1999 "bei rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 2012 waren es nur noch knapp über 17 Prozent". [6]

Südeuropa (Spanien, Italien, Griechenland, Portugal) wird ja neuerdings drastisch "gesundgeschrumpft". Zwangsläufige Folge: Soziale Verwerfungen ungeheuren Ausmaßes. Und über dem Teich, in den USA, wird die Ungleichheit schon länger immer größer. "Zwischen 1970 und 2012 ist das Durchschnittseinkommen der ärmeren 90 Prozent der US-Bevölkerung von 33.000 auf 30.000 Dollar gesunken, während das der reicheren zehn Prozent von 137.000 auf 244.000 Dollar gestiegen ist (sich also fast verdoppelt hat). (…) Während in den 1970er Jahren das Durchschnittseinkommen der reichsten zehn Prozent viermal höher war als das der restlichen 90 Prozent, ist es nun achtmal höher." [7] Die Bundeskanzlerin würde übrigens sagen, man habe die Wettbewerbsfähigkeit erhöht.

Wenn George Osborne die Kürzungen der Sozialausgaben mit dem Verweis auf die chinesische und indische Konkurrenz begründet, ahnt man, wohin sich der Zug bewegen wird. Genau dorthin: Nehmen wir einmal an, Spanien, Italien und Frankreich reformieren sich in puncto Wettbewerbsfähigkeit ans deutsche Niveau heran. Dann wird Deutschland abermals an der gleichen Schraube drehen, weil es seinerseits wieder mehr Wettbewerbsfähigkeit erlangen muss. Die Exportnation muss nämlich immer besser sein als die europäischen Partnerländer, die Außenhandelsüberschüsse müssen schließlich irgendwo herkommen. Bleibt man bei dieser auf Exporterfolge ausgerichteten Strategie, führt das zwangsläufig zu einer stetigen Absenkung des Wohlstands auf Seiten der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Anschließend sind die Partnerländer wieder an der Reihe. Jede Drehung dieser Abwärtsspirale wird dann mit einer neuen Reformrunde eingeläutet. Zum Schluss befindet man sich vielleicht mit China und Indien auf vergleichbarem Niveau. Einem ähnlich niedrigen, versteht sich.

Die Agenda 2010 habe der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gut getan, sagen viele. Das ist richtig, aber das Ganze wurde mit sinkenden oder bestenfalls stagnierenden Einkommen der Bevölkerungsmehrheit erkauft. In Deutschland ist inzwischen jedes fünfte Kind von Armut bedroht. Tendenz: steigend. "Nach Angaben des Deutschen Kinderhilfswerks leben hierzulande derzeit 2,8 Millionen Kinder in Armut. Jedes fünfte Kind gilt also als arm, 2007 war es noch jedes sechste und 1960 sogar nur jedes 75." [8] Ein dreifach Hoch auf die Wettbewerbsfähigkeit. Mit der Fokussierung auf die Höhe der Sozialausgaben wird man den Karren am Ende bloß noch tiefer in den Dreck fahren. Klar ist allerdings, dass ein einzelnes Land unter den vorherrschenden Bedingungen kaum auf die Teilnahme an diesem fatalen Unterbietungswettbewerb verzichten kann. Solange es keine einheitliche Wirtschafts- und Sozialpolitik der Europäer gibt, was eine gewisse Solidarität Deutschlands erfordert, sind Kehrtwenden à la François Hollande fast ein Muss. Doch bis dahin ist es noch ein langer und steiniger Weg. Er wird jedenfalls nicht gelingen, solange Angela Merkel im Amt ist.

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[1] N24 vom 15.01.2014
[2] FAZ.Net vom 14.01.2014
[3] Statistisches Bundesamt, Verdienste und Arbeitskosten, PDF-Datei mit 358 kb
[4] Statistisches Bundesamt, Reallohnindex
[5] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 016 vom 15.01.2014
[6] DIW, Wochenbericht 26/2013, PDF-Datei mit 1 MB
[7] taz vom 04.01.2013
[8] RP-Online vom 15.01.2014