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09. Februar 2014, von Michael Schöfer
Auf Ehrlichkeit zu vertrauen, ist naiv


Sogar im Tierreich wird gelogen, denn das kann im harten Überlebenskampf die entscheidenden Pluspunkte bringen, etwa bei der Nahrungsbeschaffung oder der Fortpflanzung. Der Vorgang des Täuschens ist also keineswegs auf den Homo sapiens beschränkt, wenngleich er ihn im Laufe seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung zu einer hohen Kunst verfeinert hat. Letztlich können wir, jedenfalls sagt uns das die Erfahrung, niemandem wirklich trauen. Und zwar deshalb nicht, weil wir keine Gedanken lesen können. Wir können es anderen bloß glauben, dass sie ehrlich sind. Genau wissen können wir es nie. Und unbestreitbar werden wir diesbezüglich oft enttäuscht.

Nicht ohne Grund gibt es sei jeher Versuche, die wahren Absichten der Menschen zu ergründen. Das, was die NSA macht, uns möglichst vollständig zu überwachen, ist zwar aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten heraus zu verurteilen, aber eben auch zutiefst menschlich. Es ist Ausdruck eines Grundmisstrauens. Nehmen wir an, liebe Leserinnen und Leser, Sie könnten Gedanken lesen. Würden Sie aus ethischen Gründen darauf verzichten? Wohl kaum, die Versuchung wäre viel zu groß. Und aus dem gleichen Grund werden die Geheimdienste wahrscheinlich nie auf vorhandene Überwachungsmöglichkeiten verzichten. Zumindest nicht freiwillig. Hierbei auf Gesetze oder Verträge zu setzen, ist m.E. naiv, denn Gesetze werden leicht übertreten und Verträge allzu bereitwillig gebrochen. Wer etwas anderes behauptet, hat aus der Geschichte nichts gelernt. Wirklich helfen können m.E. nur technische Vorkehrungen: starke Verschlüsselung, sichere Betriebssysteme etc. Manches davon müssen wir aber erst noch entwickeln. Wie verwundbar wir sind, haben wir ja gerade eben erst entdeckt.

Nur wenige Menschen sind bereit, sich auch an die von ihnen propagierten Prinzipien zu halten, denn wenn es opportun erscheint, machen bekanntlich viele eine Ausnahme. Und je größer der Eigennutz, desto kleiner sind offenbar die Skrupel. Das gilt im privaten Bereich genauso wie in öffentlichen Angelegenheiten. Wenn sich etwa jemand seit Jahrzehnten als moralisches Fallbeil der Republik geriert, aber gleichzeitig mithilfe eines Bankkontos in der Schweiz Steuern hinterzieht, mag das die Nation überraschen. Mich nicht. Überraschend sind vielmehr die Rechtfertigungen, weil sie oft ausgesprochen dumm ausfallen.

So hat beispielsweise Alice Schwarzer ihr Schweizer Bankkonto damit begründet, sie habe in den achtziger Jahren wegen "der Hatz" gegen ihre Person ernsthaft ans Auswandern gedacht. Subjektiv gesehen dürfte das vielleicht sogar einleuchtend gewesen sein, denn die "Emma"-Herausgeberin ist für viele seit langem eine Reizfigur, an entsprechenden Angriffen - oberhalb und unterhalb der Gürtellinie - hat es zweifellos nie gefehlt. Doch was hat das eine, der Gedanke ans Auswandern, mit ihrem Schweigen gegenüber dem Finanzamt zu tun? Nichts. Selbst wenn die Bundesrepublik in den Autoritarismus abgeglitten wäre, ein damals wie heute absurder Gedanke, hätte das schließlich an ihrem Vermögen in der vor jeden Zugriff sicheren Schweiz nichts geändert. Insofern gab es überhaupt keinen Anlass, die finanzielle Notreserve vor den hiesigen Finanzbehörden zu verbergen und dadurch Steuern zu hinterziehen. Allerdings ist auch dem klugen Kommentar von Bettina Gaus zuzustimmen: "Das Rechtssystem ist nicht nur für nette Leute erfunden worden." [1] Insofern ist der Bruch des Steuergeheimnisses nicht zu rechtfertigen - selbst wenn dadurch die Doppelmoral von Alice Schwarzer ans Licht gezerrt wurde.

Viel gewichtiger als kleine oder große Steuerhinterzieher sind freilich die Bestrebungen von Staaten, Macht auszuüben und sich das dafür notwendige Handwerkszeug zu verschaffen. Wer mag schon für die Beteuerung des Iran seine Hand ins Feuer legen, das Atomprogramm des Landes habe mitnichten die nukleare Bewaffnung zum Ziel? Vermutlich die wenigsten. Und man muss nicht Benjamin Netanjahu heißen, um in Bezug darauf äußerst misstrauisch zu sein. Hundertprozentige Sicherheit wird es wohl nie geben. Bei Nuklearwaffen kann man sich jedoch Unsicherheit kaum leisten. Es ist von daher ratsam, weniger auf iranische Beteuerungen, sondern mehr auf harte Fakten (= Verifikation) zu vertrauen. Hoffentlich wissen das die an den Verhandlungen Beteiligten. Naivität, wie beim angestrebten und inzwischen offenbar beerdigten sogenannten "No-Spy-Abkommen", kann sich in puncto Atombombe fatal auswirken. Das gilt, wohlgemerkt, für beide Seiten, denn die Lüge ist menschlich und keineswegs an bestimmte Nationalitäten, Ideologien oder Religionen gebunden.

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[1] taz vom 07.02.2014