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29. März 2014, von Michael Schöfer
Ein Europa voller Gebrauchtwagenhändler


Die Wahrheit, mein Gott, die Wahrheit... Die lässt sich bekanntlich nur schwer fassen. Es geht denn auch in Konflikten meist nicht um die reine Wahrheit, und nichts als die Wahrheit, sondern um das, was man der Öffentlichkeit als Wahrheit verkauft. Dafür sind PR-Strategen wichtiger als unabhängige Richter. Letztlich muss sich jeder die Frage stellen: Würde ich von diesem oder jenem einen Gebrauchtwagen kaufen? Beispiel Krimi-Krise: Europa ist derzeit voller Gebrauchtwagenhändler, doch nur wenige können das Attribut "dubios" mit Fug und Recht von sich weisen.

Nehmen wir etwa den Herrn, vor dem sich neuerdings die halbe Welt zu fürchten scheint: Wladimir Putin. In seiner Rede zum Anschluss der Krim und Sewastopols bekennt sich der russische Präsident zur Meinungsfreiheit. "Ich verstehe diejenigen gut, die als friedliche Demonstranten auf den Maidan gingen, um gegen Korruption, ineffiziente Verwaltung und Armut zu protestieren. Die Rechte auf friedlichen Protest, demokratische Prozeduren und Wahlen existieren gerade dazu, um Regierungen zu wechseln, mit denen die Menschen nicht zufrieden sind." [1] Putin verteidigt die Meinungsfreiheit? Ausgerechnet er?

Sehen Sie es mir nach, wenn ich davon ein bisschen überrascht bin, denn das nennt man gemeinhin Chzupe. Im eigenen Land lässt Putin Menschen, die "gegen Korruption, ineffiziente Verwaltung und Armut" protestieren, einsperren und missliebige Meinungen unterdrücken. So wurden etwa in Russland unlängst mehrere regierungskritische Websites blockiert, darunter die des Ex-Schachweltmeisters und Bürgerrechtlers Garri Kasparow und die des Kremlkritikers Alexej Nawalny, der obendrein seit Februar unter Hausarrest steht. [2] Der russische Oppositionelle Jewgenij Witischko ist vor kurzem zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Grund: Der Umweltaktivist und Kritiker der Winterolympiade in Sotschi hatte im vergangenen Jahr an einem Zaun Protestplakate angebracht. [3] Und acht Oppositionelle, die vor zwei Jahren auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau gegen Präsident Putin demonstrierten, wurden gerade schuldig gesprochen. Ihnen droht mehrjährige Haft im Straflager. [4] Russische Kritiker der Krim-Annexion diffamiert Putin als "fünfte Kolonne" (= Vaterlandsverräter). Putins Verständnis für Meinungsfreiheit ist also reine Heuchelei.

Würden Sie von Wladimir Putin einen Gebrauchtwagen kaufen? Ich nicht, und wenn er mir noch so viel Honig um den Bart schmieren würde. Seine Wahrheit ist offenkundig eine ganz spezielle. Doch bevor jetzt unter Russland-Hassern vorschnell Jubel ausbricht - Gebrauchtwagenhändler gibt es auch hierzulande mehr als genug. Insbesondere die Presse spielt dabei eine fatale Rolle. Selbst normalerweise kritische Medien sind von der Hysterie infiziert. Beispiel taz: "Valery Gergiev ist der zukünftige Chef der Münchner Philharmoniker", sorgt aber schon vor Arbeitsaufnahme "für Ärger", schreibt das linksalternative Blatt. Gergiev ist nämlich bekennender Putin-Fan und distanziere "sich nur halbherzig von (...) Putins Menschen verachtenden Antischwulengesetzen". Die Grünen im Münchner Stadtrat fordern, Gergiev müsse sich erklären, und "wenn er sein Vorgehen unverändert für richtig halte, 'ist er als Chefdirigent unserer Philharmoniker untragbar geworden'". Gergiev sei in München "ein designierter Chefdirigent auf Bewährung", kommentiert die taz und haut damit in die gleiche Kerbe. "Noch einen Fauxpas wird sich der Putinverehrer nicht leisten können, egal wie toll er Schostakowitsch, Strawinsky und Tschaikowsky dirigiert." [5]

Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen, denn was heißt das konkret? Ist die taz mit einem Mal für Berufsverbote? Nur wegen einer abweichenden Meinung? Darf ein Russe plötzlich nicht mehr Anhänger seines Präsidenten sein? Oder muss er sich, um in Deutschland arbeiten zu können, demonstrativ von ihm distanzieren? Um es klarzustellen: Gergiev hat keine Kinder missbraucht, Massenmorde gerechtfertigt oder Putin-Kritikern die Kehle durchgeschnitten. Er unterstützt lediglich Wladimir Putins Vorgehen auf der Krim. Das mag einem gefallen oder nicht, aber rechtfertigt das tatsächlich ein faktisches Berufsverbot? Muss man dem Leitmedium der Linksalternativen wirklich erläutern, was Pluralismus bedeutet und wie man Toleranz buchstabiert? Von den Grünen ganz zu schweigen. Nimmt man die taz ernst, müsste Helmut Schmidt, der für Putin ebenfalls Verständnis aufbringt, um seinen Arbeitsplatz als Herausgeber der Wochenzeitschrift "Die Zeit" fürchten. Aber zum Glück leben wir in einer Demokratie, obgleich sie ab und an der Hysterie zuneigt.

Auch SZ-Redakteur Joachim Käppner greift in der Süddeutschen tief in die Trickkiste der Propaganda, wenn er in seinem Blatt die sogenannten "Putinversteher" kritisiert. "In deren Denken ist Verteidigung Aggression und das eigene Bündnissystem der eigentlich Schuldige: Die Aufnahme der Osteuropäer in die Nato wird als Provokation, gar als Einkreisung und Demütigung Russlands hingestellt. Nach dieser Logik wäre die Befreiung Afrikas und Asiens vom Joch der weißen Herren nach 1945 eine Provokation Frankreichs und Großbritanniens, die in der Folge das moralische Recht hätten, sich Teile ihrer Kolonien zurückzuholen." [6] Wer derart geschichtslos die Krim mit den früheren europäischen Kolonien in Afrika und Asien gleichsetzt und dem offenbar jedes Gespür für die Sicherheitsinteressen Russlands abgeht, hat seinen Beruf verfehlt. Käppner zufolge ist es bloß eine Legende, "der Westen habe dem Kreml (...) als Gegengabe zur Wiedervereinigung 1990 versprochen, die Allianz nicht nach Osteuropa auszudehnen. Aber einen solchen Vertrag gibt es nicht und die Sowjetunion nicht mehr." Diese Interpretation verblüfft.

Als die Wiedervereinigung Deutschlands ausgehandelt wurde, gab es zwar keine schriftlich fixierten, aber nichtsdestotrotz unzweideutige mündliche Zusagen westlicher Politiker, beispielsweise die des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher. "Genschman", wie er liebevoll genannt wurde, sagte wörtlich: "Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das Nato-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR (...), sondern das gilt ganz generell." [YouTube-Video] James Baker, zu der Zeit Außenminister der USA, stand währenddessen direkt daneben. Widerspruch? Fehlanzeige! Genschers Zusage war unstreitig eine Grundvoraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung.

Ein Mann, ein Wort? Womöglich sogar ein Ehrenwort? Vergessen Sie es. Die Nato wurde, wie wir alle wissen, wortbrüchig. Von Genscher würde heute auch keiner mehr einen Gebrauchtwagen kaufen. Jedenfalls kein Russe. Und wenn Käppner suggeriert, diese Zusagen hätten mit dem Ende der Sowjetunion ihre Bindungskraft verloren, müsste sich Russland nach dieser eigentümlichen Logik heute auch nicht mehr an die Abrüstungsvereinbarungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten halten. Doch das wird er kaum ernsthaft fordern. Völkerrechtlich ist diese Position ohnehin Kappes, denn die Russische Föderation ist Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion. Käppner sucht sich nur das heraus, was ihm in den Kram passt. Selektive Wahrnehmung oder beabsichtigte Desinformation? Vom SZ-Redakteur per Handschlag einen Gebrauchtwagen zu kaufen, ist daher genauso wenig zu empfehlen, denn der könnte sich ja im Zweifelsfall mit dem lapidaren Hinweis "Einen solchen Vertrag gibt es nicht" herausreden. Ehrlichkeit interpretiert man üblicherweise anders.

Europa ist voller Gebrauchtwagenhändler. Und man sollte, hüben wie drüben, keinem wirklich trauen. Stimmen, die sich um Objektivität bemühen, sind leider rar. Es kommt heute mehr denn je auf den vielbeschworenen "mündigen Bürger" an, der sich seine eigene Meinung bildet. Ohne dabei dubiosen Gebrauchtwagenhändlern auf dem Leim zu gehen.

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[1] Eurasisches Magazin, Putins Rede im Wortlaut
[2] tagesschau.de vom 14.03.2014
[3] Spiegel-Online vom 20.12.2013
[4] Süddeutsche vom 21.02.2014
[5] taz vom 27.03.2014
[6] Süddeutsche vom 29.03.2014