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| Impressum 31. März 2014, von Michael Schöfer Harakiri Etwas zu verstehen ist nicht gleichbedeutend damit, es zu billigen. Doch der Vormarsch der Rechtspopulisten, jüngstes Beispiel ist das gute Abschneiden des Front National bei den französischen Kommunalwahlen, überrascht im Grunde niemand. Unser politisches System begeht nämlich durch den aggressiven Marktradikalismus, der seit einigen Jahrzehnten alle politischen Entscheidungen dominiert, gewissermaßen Harakiri. "Die realen Pro-Kopf-Nettoeinkommen [in Österreich] sind seit Beginn der Neunzigerjahre in Summe nicht mehr gewachsen", beklagt die Presse unseres südlichen Nachbarlandes. "Das verlorene Vierteljahrhundert", heißt es dort inzwischen. [1] In Deutschland genau das gleiche Bild: Die Reallöhne sind hierzulande im vergangenen Jahr - trotz boomender Exportwirtschaft - um 0,1 Prozent gesunken. [2] Man fragt sich unwillkürlich, was die regelmäßig von der GfK gemeldete steigende Kauflaune verursacht ("Deutsche planen Anschaffungen in großem Stil") [3]. Die Reallöhne sind es offenkundig nicht, denn die sinken ja. In Österreich stagnieren die Reallöhne seit 1991, in Deutschland sind sie sogar niedriger als 1992. In der BRD betrug der Reallohnindex 1992 im Jahresdurchschnitt 103,4 Punkte, 2013 waren es lediglich 101,6 Punkte. [4] Mit anderen Worten: Den Deutschen geht es heute schlechter als damals. Dabei reden wir hier gar nicht über die darbenden südeuropäischen Krisenstaaten, sondern über - volkswirtschaftlich betrachtet - zwei der reichsten Mitgliedstaaten der EU. Geht es allen Deutschen schlechter? Nein, natürlich nicht. Eine kleine Schicht hat zweifellos enorm profitiert. "In keinem anderen Euro-Staat sind die Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland." [5] "Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt ein persönliches Vermögen im Wert von je mindestens 817.000 Euro." 20 Prozent haben dagegen gar kein Vermögen, sieben Prozent sogar mehr Schulden als Besitz. [6] Wenig verwunderlich: Nach einer repräsentativen Umfrage des Allensbach-Instituts "finden 59 Prozent der Befragten, es gehe in Deutschland nicht gerecht zu. Nur 21 Prozent halten Vermögen und Verdienste für fair verteilt." [7] Ach, 21 Prozent? Doch so viele? Ganz krass ist die Lage in Großbritannien: "In Großbritannien besitzen die fünf reichsten Familien mehr als die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung zusammen. (…) Die ärmsten 20 Prozent - 12,6 Millionen Menschen - besitzen gemeinsam 28,1 Milliarden Pfund (...). Die fünf vermögendsten Familien (...) [kommen] hingegen auf 28,2 Milliarden Pfund." [8] Eine Entwicklung, die auf der ganzen Welt zu beobachten ist: "Die Zahl der Dollar-Milliardäre und ihr Reichtum sind weltweit weiter stark gestiegen. (…) Der gesamte Reichtum aller Milliardäre übersteigt demnach die Wirtschaftsleistung Japans, der drittgrößten Volkswirtschaft." [9] Ein Prozent der Menschheit besitzt angeblich die Hälfte des weltweiten Reichtums. [10] Mir kommt da immer Jean-Jacques Rousseau in den Sinn: "Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen 'Dies gehört mir' und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: 'Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört.'" [11] Unser System verliert dadurch zunehmend an Legitimation. Erstens gehen immer weniger Menschen wählen (bei der OB-Wahl in München am 16.03. waren es zum Beispiel bloß noch 42,1 %, bei der Stichwahl am 30.03. 38,5 %), zweitens legen rechtspopulistische Parteien sukzessive zu. Der Lackmustest ist diesbezüglich die Europawahl im Mai. In einigen Ländern, etwa in Frankreich oder den Niederlanden, könnte die Rechte Umfragen zufolge sogar stärkste Kraft werden. Keine Überraschung, schließlich verschlechtert sich in vielen Ländern die soziale Lage der Bevölkerungsmehrheit. Fatal ist freilich, dass die Wählerinnen und Wähler von beiden großen politischen Lagern, die sich bislang beim Regieren abgewechselt haben oder gar miteinander koalierten (Konservative, Sozialdemokraten), gleichermaßen enttäuscht sind. Der Eindruck ist nämlich nicht unberechtigt: Egal wer dran ist, die Eliten profitieren gewaltig, im Gegensatz dazu bleibt das Gros der Arbeitnehmer zurück und hat große Mühe, den Lebensstandard zu halten. Mittlerweile quasi ein Naturgesetz. Es ist daher ordentlich Druck im Kessel. Und wehe, wenn der explodiert. Lernen wir daraus? Natürlich nicht. Bestes Beispiel ist die Ukraine. Die wirtschaftliche Lage dort darf man ohne Übertreibung als desaströs bezeichnen, erwartungsgemäß empfiehlt der IWF wie gehabt sein Standardrezept: Den Milliardenkredit gibt es nur, wenn die Regierung in Kiew Subventionen und Arbeitsplätze abbaut sowie Preise und Steuern erhöht. Harte soziale Einschnitte sollen den drohenden Bankrott vermeiden. Griechenland lässt grüßen. Doch was ist mit den steinreichen Oligarchen? Die haben nun sowohl im Parlament als auch als Gouverneure in den Regionen das Sagen. Berichtet jedenfalls die Tagesschau. [12] "Gasprinzessin" Julia Timoschenko, die zumindest früher ebenfalls ein Millionenvermögen besaß, will unbedingt Präsidentin werden. Ex-Box-Weltmeister Vitali Klitschko hat zugunsten von Petro Poroschenko auf seine Präsidentschaftskandidatur verzichtet. Poroschenko, der damit gute Chancen auf den Sieg haben dürfte, ist jedoch - Sie ahnen es bestimmt - ein Oligarch. Der Unternehmer, dem auch ein privater Fernsehkanal gehört, war bereits "Außen- und Wirtschaftsminister der Ukraine und wurde 2013 von der Wirtschaftszeitschrift 'Forbes' auf Platz sieben der ukrainischen Oligarchen, mit einem geschätzten Vermögen von 1,6 Milliarden Dollar, gelistet." [13] Ein ukrainischer Berlusconi also? Das Land wird nun einer Schocktherapie unterzogen (die Wähler sind übrigens vorher überhaupt nicht gefragt worden). Ob und wann es den Menschen wieder besser geht, ist offen. Unternehmer können zwar Unternehmen führen, aber Staaten sind keine Unternehmen. Auch das wird man in der Ukraine wahrscheinlich noch merken. Vor diesem Hintergrund ist die Trotzreaktion des "kleinen Mannes auf der Straße", populistische Parteien zu wählen, durchaus verständlich (wenngleich nicht akzeptabel). In Krisensituationen sind eben die vermeintlich einfachen Lösungen besonders attraktiv. Allerdings wird der "kleine Mann" auch von den Populisten schwer enttäuscht, wie die Vorgänge in Österreich gezeigt haben (die Skandale der FPÖ/BZÖ unter Jörg Haider). Viel schlimmer: Ähnlich wie in Ungarn (durch Viktor Orbán und seine Partei "Fidesz") droht Gefahr für die Demokratie. Die Politik der Umverteilung von unten nach oben ist deshalb absolut hirnrissig, was unseren Regierenden indes vollkommen egal zu sein scheint. Wenn sie nicht ein Debakel erleben wollen, das zu einer tiefgreifenden Änderung der politischen Landschaft führt und bei dem sie am Ende auf der Strecke bleiben, müssten sie eigentlich ihren Kurs rasch ändern. Aber ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass das Notwendige oft unterbleibt. Bis es zu spät ist. ---------- [1] Die Presse.com vom 28.03.2014 [2] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 116 vom 28.03.2014 [3] Spiegel-Online vom 26.03.2014 [4] Statistisches Bundesamt, Reallohnindex und Nominallohnindex - 4. Vierteljahr 2013, Excel-Datei mit 386 kb [5] Focus-Money vom 28.02.2014 [6] Stern-Online vom 26.02.2014 [7] n-tv vom 23.03.2014 [8] Spiegel-Online vom 17.03.2014 [9] Weser-Kurier vom 26.02.2014 [10] Spiegel-Online vom 20.01.2014 [11] Wikipedia, Jean-Jacques Rousseau [12] tagesschau.de vom 28.03.2014 [13] Wikipedia, Petro Poroschenko |