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27. April 2014, von Michael Schöfer
Lediglich einer von vielen Winkelzügen


Beim Blick in die Tagespresse könnte man annehmen, als gäbe es nur noch den Konflikt in der Ukraine. Dem ist aber nicht so, viele alte und neue Konflikte segeln bloß mehr oder weniger unbeachtet im publizistischen Windschatten mit. Da bedarf es schon eines größeren Massakers, wie kürzlich im Südsudan, oder eines spektakulären Bombenanschlags, wie etwa dem in Nigeria, um in den Schlagzeilen der Weltpresse aufzutauchen. Kleinere Verbrechen werden, wenn überhaupt, nur noch am Rande erwähnt.

In einem der Konflikte, die in letzter Zeit ein bisschen aus den Schlagzeilen verschwunden waren, scheint sich freilich eine spektakuläre politische Wende anzubahnen: Die beiden Palästinenserorganisationen Fatah und Hamas haben sich wieder angenähert und streben binnen kurzem die Bildung einer gemeinsamen Regierung an. Außerdem soll es in einem halben Jahr Parlaments- und Präsidentschaftswahlen geben. [1] Seit ihrem Kampf um die Vorherrschaft im Jahr 2007, der innerhalb des Palästinenserlagers zu einer faktischen Zweiteilung führte, standen sich Fatah und Hamas feindselig gegenüber. Insofern hat die neue Entwicklung überrascht. Ob die geplante Versöhnung wirklich zustande kommt, steht allerdings in den Sternen.

Ideologisch trennen beide Organisation Welten: Im Gegensatz zur laizistischen Fatah will die Hamas einen islamischen Staat errichten ("das Banner Gottes über ganz Palästina aufpflanzen"). Die sich als Zweig der Muslimbruderschaft in Palästina definierende Organisation stand Israel bislang absolut unversöhnlich gegenüber ("die Palästina-Frage kann nur durch den Dschihad gelöst werden"), während die Fatah bereits 1993 unter Jassir Arafat das Existenzrecht Israels anerkannte. Wie es vor diesem Hintergrund zu einer Einheitsregierung kommen kann, ist daher mehr als fraglich. Es wird darüber spekuliert, ob die Hamas nun ebenfalls das Existenzrecht Israels anerkennt. Bis dato war dieser Schritt völlig undenkbar, denn die Hamas wollte vielmehr Israel vernichten und hat aus diesem Grund nie eine wie auch immer geartete Zwei-Staaten-Lösung angestrebt. In der Charta der Hamas wird sogar unverblümt zur Tötung von Juden aufgerufen (vgl. Artikel 7). Es ist somit keineswegs evident, wer hier wen für welches konkrete Ziel zu benutzen versucht.

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas fordert von Israel, den Wohnungsbau für jüdische Siedler drei Monate lang zu stoppen sowie weitere palästinensische Langzeitgefangene freizulassen, sonst werde er die Friedensverhandlungen beenden. Ist da der Flirt mit der Hamas buchstäblich der Wink mit dem Zaunpfahl? Motto: Wir können auch anders. Israel wiederum betont, Abbas müsse klar gewesen sein, dass diese Bedingungen nicht zu erfüllen sind und erklärt die Friedensverhandlungen ebenfalls für beendet. In solchen Fällen heißt es bei Monopoly: "Gehe zurück auf Los!" Man beginnt abermals von vorne.

Unterdessen geht der völkerrechtlich illegale israelische Siedlungsbau in Ost-Jerusalem und der Westbank unbeirrt weiter (Artikel 49 des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.08.1949: "Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln"). Nach Angaben der "Foundation for Middle East Peace" lebten 1972, mithin fünf Jahre nach der Eroberung der Gebiete im Sechstagekrieg, ganze 1.182 jüdische Siedler in der Westbank, 2011 waren es in den mittlerweile 355 israelischen Siedlungen beachtliche 328.423 (17 % der dort lebenden Einwohner). In Ost-Jerusalem, das Israel 1980 annektierte (die Annexion wurde aber vom UN-Sicherheitsrat in der Resolution 478 für nichtig erklärt), standen 2010 den ungefähr 250.000 Palästinensern 198.629 jüdische Einwohner gegenüber. [2]

In der turbulenten Geschichte des Nahen Ostens ist die angekündigte Versöhnung von Fatah und Hamas lediglich einer von vielen Winkelzügen, die für Außenstehende nahezu undurchschaubar sind. Wird sich die Fatah, enttäuscht vom Friedensprozess mit Israel, wieder radikalisieren und die Hamas deshalb an der Macht teilhaben lassen? Oder mutiert die Hamas, ideologisch von der Arabellion und militärisch vom Sturz der Muslimbrüder in Ägypten geschwächt, analog zur Entwicklung der PLO von einer Terrororganisation zu einer gemäßigten politischen Partei? Vielleicht fürchten auch beide Organisationen um den Rückhalt bei der nachwachsenden arabischen Generation und schließen sich daher zu einem Zweckbündnis mit dem Ziel des Machterhalts zusammen (im Westjordanland sind 55,4 % der Bevölkerung unter 25 Jahre, im Gazastreifen sind es sogar 63,8 % [3]). Dass der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Ankündigung prompt zum Ausstieg aus den aktuellen Verhandlungen nutzte, verwundert wenig, sind doch die Feinde Israels momentan überwiegend mit sich selbst beschäftigt. Israel glaubt offenbar, sich den Verhandlungsstillstand leisten zu können.

Die Region ist derzeit einem drastischen Wandel unterworfen, bei dem die Machtverhältnisse fast überall neu austariert werden. Und es ist vollkommen unklar, wie diese am Ende aussehen. Wird es, wie in Ägypten, zu einer zumindest temporären Restauration der Autokratie kommen - nur eben mit anderen Gesichtern an der Spitze des vom Militär dominierten Establishments (al-Sisi anstatt Mubarak)? Werden wichtige Regionalmächte wie der Irak oder Syrien auf absehbare Zeit ihre Kräfte in einem blutigen Bürgerkrieg vergeuden und solange außenpolitisch neutralisiert sein? Wird die Radikalisierung durch die Islamisten weiter zunehmen und womöglich die Oberhand gewinnen? Oder werden, wie etwa in Tunesien, die zaghaften Demokratisierungsversuche fruchten und beispielgebend auf andere Länder ausstrahlen? Das weiß niemand. Der Nahe Osten ist jedenfalls - Ukraine hin oder her - nach wie vor eine viel dynamischere Region als Osteuropa. Wir sollten sie folglich nicht aus dem Blick verlieren.

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[1] tagesschau.de vom 23.04.2014
[2] Foundation for Middle East Peace, Comprehensive Settlement Population 1972-2010
[3] CIA, The World Factbook, Westbank, Gazastreifen