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| Impressum 04. Mai 2014, von Michael Schöfer Über das geopolitische Spiel und den Balken im Auge Liebe Leserinnen und Leser, Sie dürfen von mir jetzt natürlich kein Bekenntnis zu Religionen im Allgemeinen und zum Christentum im Besonderen erwarten. Seien Sie unbesorgt, ich bin nicht bekehrt worden. In keiner Hinsicht. Aber nichtsdestotrotz enthalten religiöse Texte Weisheiten, die zwar weniger mit einem höheren Wesen, jedoch mehr mit der menschlichen Natur zu tun haben. Einer dieser markanten Sätze lautet: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?" (Matthäus 7,3) Offenbar gehörte die Heuchelei, oder nennen wir sie lieber weniger vorwurfsvoll "selektive Wahrnehmung", schon seit jeher zu den Untugenden des Homo sapiens. Um Missverständnissen von vornherein vorzubeugen: Ich bin weder Putin- noch Russland-Versteher (hinter vorgehaltener Hand soll diese Schmähung ohnehin Putin- bzw. Russland-Befürworter bedeuten), ich schätze vielmehr die Demokratie und ihre inhärenten Werte: Meinungs- und Pressefreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Religionsfreiheit, Wahrung der Menschenrechte, Rechtsstaatsprinzip etc. Putin ist zweifellos ein Autokrat, und die Mitglieder der kommunistischen Führungsclique in Peking sind nichts anderes als Diktatoren. Dass ich folglich weder in Russland oder China leben möchte, sondern lieber hierzulande meine - gleichwohl keineswegs unbegrenzte - Freiheit genieße, dürfen Sie mir ruhig unterstellen. Ich werde Ihnen keinesfalls widersprechen. Dennoch muss ich Russland und China nachfolgend ein bisschen in Schutz nehmen. Die Liebe zur Demokratie enthebt mich nämlich nicht der Pflicht, ab und an vor der eigenen Haustür zu kehren. Neuerdings beklagen Leitartikler die, wie sie meinen, zunehmende Aggressivität Russlands und Chinas. Belege hierfür seien die Ereignisse in der Ukraine und die Territorialkonflikte im Chinesischen Meer. Russland und China würden dadurch bloß den armen Westen stören, dabei wollen wir hier doch nur in Ruhe iPads kaufen und uns im Fernsehen mit "Deutschland sucht den Superstar" berieseln lassen. Gegen solche Störenfriede, so die Schlussfolgerung der Leitartikler, müsse etwas unternommen werden. Sprich: Wir sollten in der Welt mehr Verantwortung zeigen, denn man könne sich nicht immer aus allem heraushalten. Die Meinungsmacher wettern daher in den Kommentarspalten gerne gegen die angeblich vorherrschende "Kultur der Zurückhaltung". Das liest sich dann zum Beispiel so: "Es war eine naive Hoffnung: Die Geopolitik, das Streben nach Herrschaft über Raum, schien passé. Nun erlebt sie ihre Renaissance. Russlands Vorgehen in der Ukraine ist nur ein Beispiel. (…) Vielleicht war es naiv zu glauben, mit dem Kalten Krieg sei auch die Ära der Geopolitik (...) zu Ende gegangen. (…) In Europa war diese Hoffnung auf eine neue Zeit besonders groß. Deshalb ist jetzt auch der Schock so enorm, den Russlands Landraub in der Ukraine ausgelöst hat." [1] Eine andere vernünftige Erklärung für das Verhalten Russlands gebe es nicht, und mit der Geopolitik sei auch die Angst nach Europa zurückgekehrt, meint Hubert Wetzel, bei der Süddeutschen Zeitung immerhin stellvertretender Ressortleiter der Außenpolitik. Putin, "ein Geostratege reinsten Wassers", wolle die Ukraine, "eines der letzten Bollwerke gegen den Westen, rabiat und völkerrechtswidrig zu jedem Preis verteidigen". In anderen Regionen der Welt erlebe die Geopolitik ebenfalls ein Comeback, etwa in Asien durch China und dessen territoriale Ansprüche auf Taiwan, Tibet und Seegebiete im Chinesischen Meer. Ebenso im Nahen Osten: "Was will Putin eigentlich mit einem Kriegshafen in Syrien? Sollen russische Fregatten das Oligarchengeld in Zypern beschützen?" Im Westen träfe das zum einen auf Unverständnis, denn der habe sich angewöhnt "Institutionen und Verträge (gelegentlich auch Werte) für wichtiger im Umgang zwischen Staaten zu halten als Geografie". Zum anderen sei der Westen müde geworden und habe das teure geopolitische Spiel satt. Puh, erst einmal ganz tief Luft holen: Nach so viel Ignoranz muss jetzt zwangsläufig der Rückgriff auf die eingangs erwähnte Weisheit kommen: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?" Hubert Wetzel suggeriert den Leserinnen und Lesern seines Blattes, der Westen habe sein - bezieht man das Zeitalter der Entdeckungen (15. - 18. Jh.) mit ein - seit Jahrhunderten betriebenes geopolitisches Spiel nach dem Ende des Kalten Krieges praktisch aufgegeben. Da darf man sich schon fragen, in welcher Welt der gute Mann eigentlich lebt. Um seine These zu widerlegen, genügt schon allein die Liste der amerikanischen Militärbasen im Ausland: "Die Vereinigten Staaten unterhielten nach eigenen Angaben im Jahr 2008 761 militärische Einrichtungen aller Teilstreitkräfte (Army, Air Force, Navy, Marine Corps) im Ausland. (...) Die Gesamtzahl der Stützpunkte, auf die die USA jederzeit zurückgreifen können, ist jedoch höher, da Basen, für die lediglich Nutzungsrechte vereinbart wurden, auf denen aber derzeit keine amerikanischen Soldaten stationiert sind, sowie etliche Militärbasen, etwa in Afghanistan und im Irak, in dieser Statistik nicht enthalten sind. Experten schätzten im Jahr 2004 die Gesamtzahl der Stützpunkte, auf die die USA jederzeit zurückgreifen können, auf ungefähr 1000." [2] Zahlen, die sich seitdem kaum entscheidend verändert haben dürften. Zum Vergleich: "Heute befinden sich schätzungsweise 25 russische Militärstützpunkte in neun ehemaligen Sowjetrepubliken." [3] Im Mittelmeer hat die russische Flotte einen Stützpunkt in der syrischen Hafenstadt Tartus. Personalstärke der Dauerbesatzung: 50 Mann. In Worten: fünfzig! [4] Neben dem Heimathafen der Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim übrigens weltweit ihr einziger. Die im Mittelmeer operierende Sechste Flotte der US-Navy mit Heimathafen Gaeta/Italien besteht dagegen aus "etwa 40 Schiffen, 175 Flugzeugen und 21.000 Mann in Kampf- und Unterstützungseinheiten". [5] Vor zwei Jahren hat die russische Nachrichtenagentur "Ria Novosti" darüber berichtet, dass Russlands Militär Flottenstützpunkte in Vietnam, Kuba und auf den Seychellen "in Betracht zieht". Das seien allerdings Pläne "für die ferne Zukunft, weil die russische Marine zurzeit über keine Schiffe verfügt, die in ferneren Regionen stationiert werden könnten". [6] Die auf Kuba und in Vietnam existierenden Flottenstützpunkte hatte Russland im Jahr 2001 "wegen fehlender Zweckmäßigkeit aufgegeben". So mickrig sieht derzeit Russlands aggressive Geopolitik aus, das Streben nach Herrschaft über Raum. Offiziell unterhält China überhaupt keine Kampftruppen im Ausland. Zumindest noch nicht. Es könnte aber durchaus sein, dass das von der Energierohstoffzufuhr aus dem Ausland abhängige "Reich der Mitte" demnächst Interesse an Marinestützpunkten zeigt, um Schifffahrtsrouten abzusichern (z.B. die Straße von Malakka, durch die rund 80 Prozent der chinesischen Erdölimporte geschleust werden). Sicherung der Rohstoff- und Warenströme - eine auch im Westen immer wieder vorgebrachte Rechtfertigung. [7] Oder eine Maßnahme, um Besitzansprüche auf rohstoffreiche Seegebiete zu erheben. "In Sop Hau, Laos im Süden der Provinz Champasak nutzt China eine militärische Radareinrichtung. Seit 1994 nutzt China auf den Kokos-Inseln (Coco Islands) nördlich der indischen Andamanen und Nikobaren einen Stützpunkt für Fernmelde- und Elektronische Aufklärung (SIGINT) und einen Flugplatz. Zudem kursierten Gerüchte über einen (geplanten) U-Boot-Stützpunkt. Weitere Aufklärungsstützpunkte gibt es seit 1994 in Akjab und auf Zadetgyi Kyun" in Myanmar. "1998 unterzeichnete China mit Kuba einen Vertrag zur Nutzung von zwei SIGINT-Stützpunkten. Ab 1999 nutzt China die kubanischen Einrichtungen in Bejucal und nordwestlich von Santiago de Cuba." [8] Die chinesischen Militäreinrichtungen im Ausland lassen sich sogar namentlich benennen, so übersichtlich ist das heutige Engagement der Volksrepublik. Jeden Stützpunkt der Vereinigten Staaten einzeln aufzuführen, würde hingegen den Artikel enorm in die Länge ziehen. Halten wir fest: Im Unterschied zu Russland und China betreibt doch der Westen, und hier insbesondere die Führungsmacht USA, seit langem das geopolitische Spiel und beansprucht die Herrschaft über den Raum jenseits der eigenen Grenzen. Es sind doch westliche (hauptsächlich amerikanische) Militärstützpunkte, die sich rund um den Globus verteilen, keine russischen oder chinesischen. Und diese Militärstützpunkte findet man in der Nähe der Grenzen von Russland und China, nicht umgekehrt russische oder chinesische in der Nähe des Territoriums der USA. Haben Russland oder China etwa Streitkräfte in Kanada oder Mexiko stehen? Nein, aber es gibt zahlreiche amerikanische Stützpunkte, von denen aus die Amerikaner Russland und China militärisch bedrohen könnten. Der Anteil der USA an den weltweiten Militärausgaben (2013: 1,26 Billionen Euro) beträgt 37 Prozent, China kommt auf 11 und Russland auf 5 Prozent. Die sieben westlichen Industriestaaten USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Japan, Italien und Australien kommen gemeinsam auf 52,7 Prozent. [9] Und über rabiates und völkerrechtswidriges Vorgehen brauchen wir uns hier wohl kaum ernsthaft zu unterhalten, dafür hat der Westen selbst schon etliche Negativbeispiele geliefert. Wie bitte? Was sagen Sie? Das ist etwas völlig anderes? Ach ja, wirklich? Es war tatsächlich naiv anzunehmen, die Geopolitik, das Streben nach Herrschaft über Raum, wäre passé. Der Westen hat damit nämlich nie aufgehört (z.B. Nato-Osterweiterung), und er hatte es sich für die Zukunft auch nie vorgenommen, es änderten sich lediglich die Schwerpunkte (Stichwort: Ausrichtung auf die Asien-Pazifik-Region). Die Frage an die hiesige Presse, "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?", ist deshalb nur allzu berechtigt. Was will Putin eigentlich mit einem Kriegshafen in Syrien? Richtig. Aber was wollen die USA mit ihren Kriegshäfen überall an den Küsten sämtlicher Weltmeere? Kann es sein, dass der Balken in unserem eigenen Auge die Journalisten buchstäblich blind für die Fakten macht? Verständlich, denn mit einem Balken im Auge würde ich die Welt ebenfalls recht einseitig betrachten. Ich will nichts beschönigen, die russische Politik in der Ukraine halte ich für falsch. Die des Westens aber auch. Ebenso wenig verkenne ich die Tendenz Russlands und Chinas, ihre Militärausgaben drastisch zu erhöhen. Daraus könnten künftig durchaus echte Bedrohungen erwachsen. Größere militärische Konflikte zwischen dem Westen, Russland und/oder China wären freilich für alle Beteiligten selbstmörderisch. Und die Welt ist mittlerweile ökonomisch derart vernetzt, dass sich insbesondere die USA und China gar keine größere Auseinandersetzung leisten können. Alles was die globale Wertschöpfungskette kappt (so legt bspw. ein Apple iPhone von der Produktion bis zum Kunden über 32.000 Kilometer zurück [10]), würde hüben wie drüben die Wirtschaft an den Rand des Kollaps treiben. Es liegt daher im puren Eigeninteresse der Großmächte, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Und dem muss jeder verantwortungsvolle Spitzenpolitiker Tribut zollen - egal ob er nun Obama, Putin oder Xi Jinping heißt. ---------- [1] Süddeutsche vom 03.05.2014 [2] Wikipedia, Liste von Militärbasen der Vereinigten Staaten im Ausland [3] Wikipedia, Russische Streitkräfte, Militäranlagen im Ausland [4] Wikipedia, Marinebasis Tartus [5] Wikipedia, United States Navy, Sechste Flotte [6] Ria Novosti vom 30.07.2012 [7] Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 2006 , Seite 23, PDF-Datei mit 5,9 MB [8] Wikipedia, Volksbefreiungsarmee, Stützpunkte und Stationierungen im Ausland [9] Sipri, The share of world military expenditure of the 15 states with the highest expenditure in 2013, Bild-Datei mit 99 kb [10] Newsmax vom 12.11.2012 |