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10. Mai 2014, von Michael Schöfer
Der Eurovision Song Contest als Ersatzschlachtfeld


Ich gehöre ja noch zu einer Generation, die in dem sicheren Bewusstsein erzogen worden ist, dass Homosexualität etwas Unnatürliches sei. Unnatürlich deshalb, weil beispielsweise nicht der Fortpflanzung dienend. Und überhaupt: igitt, igitt... Darüber, warum es dennoch homosexuelle Menschen gibt, haben wir uns damals keine Gedanken gemacht. Gleichgeschlechtlichkeit ist, scheinbar allen Nützlichkeitserwägungen der Evolution zum Trotz, aber offensichtlich ein ganz normaler Bestandteil der Natur. Schließlich gäbe es sie sonst nicht. Sie existiert übrigens nicht bloß beim Menschen. Gleichwohl muss ich gestehen, dass der Anblick küssender Männer, zum Beispiel im Kino, in mir nach wie vor unangenehme Gefühle auslöst. Es missfällt mir, und ich bin echt froh, wenn solche Szenen wieder vorbei sind.

Keiner kann sich von seiner Sozialisation völlig lösen. Doch es ist nur eine Seite der Medaille, offen zu dem zu stehen, was man im Innern empfindet. Die andere, diese unangenehmen Gefühle als das zu begreifen, was sie zweifellos sind: anerzogene Vorurteile. Der Mensch hat von Natur aus Angst vor äußerlich andersartigen Menschen, Mitteleuropäer beäugen etwa orientalisch aussehende Menschen oder Menschen mit schwarzer Hautfarbe äußerst skeptisch. Sie werden unterschwellig als Bedrohung empfunden. Und das von vornherein, ohne etwas über das jeweilige Individuum zu wissen. Zum Beispiel ob dieser Mensch gut oder böse ist, welchen Charakter er hat, wofür er sich interessiert etc. Die Verhaltensforschung behauptet, dass im Tierreich Vorbehalte oder gar Aggressivität gegenüber vom Aussehen oder im Verhalten von der Gruppennorm abweichenden Individuen vollkommen normal seien. Biologisch angeblich ein gruppenspezifischer Vorteil. Doch der Mensch, ein - zumindest potentiell - vernunftbegabtes Wesen, ist schließlich mehr als seine Instinkte. Ablehnende Gefühle, besonders stark ausgeprägt gegenüber dem, was man nicht aus eigener Anschauung kennt (etwa Ausländerfeindlichkeit in Regionen, in denen vergleichsweise wenig Ausländer leben), sind unbestreitbar ein Teil von uns. Wichtig ist freilich, was unsere Vernunft dazu sagt. Und die müsste sagen: Das sind lediglich Vorurteile, die es abzubauen gilt.

Von der Erkenntnis, dass unsere Emotionen auf einem Vorurteil beruhen, ist es bis zur Toleranz nicht mehr allzu weit. Wie gesagt, küssende Männer lösen in mir heute noch unangenehme Gefühle aus, aber inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass jeder so leben darf und soll, wie es ihm gefällt (solange andere dadurch nicht geschädigt werden). Niemand hat das Recht, anderen vorzuschreiben, wen sie zu küssen oder mit wem sie ins Bett zu gehen haben. Schon gar nicht der Staat. Denn unabhängig von der sexuellen Orientierung besitzen alle Menschen selbstverständlich die gleichen Rechte. Hetero- oder homosexuelle Menschen haben, wie es unsere Verfassung vorsieht, das gleiche Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und das gleiche Recht auf Meinungsfreiheit. Auch bei Wahlen sind die Stimmen heterosexueller Menschen keinen Deut mehr wert als die Stimmen der anderen. Und das ist gut so.

Unsere Gefühle, sprich unsere Vorurteile, besagen, dass man die Welt schön übersichtlich in Schwarz und Weiß einteilen kann. Aber es sind zuweilen die individuellen Tragödien, die uns bewusst machen, dass dies ein Trugschluss ist. Erst durch die Diskussion um das Geschlecht der südafrikanischen 800-Meter-Olympiasiegerin Caster Semenya wurde einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, dass in der Realität nicht einmal die scheinbar einfache Einteilung in Mann und Frau immer glasklar auf der Hand liegt. Bis heute halten sich Gerüchte, Semenya sei intersexuell. Das sind Menschen, bei denen das Geschlecht nicht eindeutig zuordenbar ist. Das ist zwar selten, dennoch kann man den Betroffenen natürlich keinesfalls ihre Menschenrechte absprechen. Es gibt offenbar mehr unter der Sonne, als uns Volksweisheiten oder Bibelsprüche glauben machen. Caster Semenya muss schwer unter dem entwürdigenden Wirbel um ihre Person gelitten haben.

Exkurs: Ältere erinnern sich bestimmt an den Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei am 21. August 1968. Ein politisches Drama, das mit der gegenwärtigen Krise in der Ukraine (noch) nicht zu vergleichen ist. Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KP?) unter Alexander Dub?ek träumte seinerzeit von einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", doch der "Prager Frühling" wurde an besagtem 21. August 1968 von den Panzern der Warschauer Pakt-Staaten unter der Führung der UdSSR brutal niedergewalzt. Die Tschechen hatten Pech: Im Kreml regierte ein gewisser Leonid Breschnew, und die nach ihm benannte "Breschnew-Doktrin" postulierte die beschränkte Souveränität der sozialistischen Staaten. Die Zeit war eben noch nicht reif für Männer wie Michail Gorbatschow.

Was die Niederschlagung des Prager Frühlings mit der sexuellen Orientierung zu tun hat? Nun, weltpolitische Dramen werden häufig notgedrungen auf andere Spielfelder verlagert. So wurde etwa, mitten im "Kalten Krieg", die Schachweltmeisterschaft von 1972 gewissermaßen zum Ersatzschlachtfeld erkoren. Der Amerikaner Bobby Fischer gewann nach dramatischem Verlauf gegen den Russen Boris Spasski den Weltmeistertitel. Sein Sieg wurde im Westen stark bejubelt (obgleich sich vorher nur eine kleine Minderheit für den Schachsport interessierte), denn seit Ende des II. Weltkriegs kam bis dahin noch jeder Schachweltmeister aus dem "Reich des Bösen" (so titulierte US-Präsident Ronald Reagan die UdSSR). Das, was man wegen der wechselseitig gesicherten nuklearen Vernichtung nicht tun konnte, erledigte stellvertretend Bobby Fischer am Schachbrett: Er besiegte die Russen.

Das Gleiche erlebten wir ein paar Jahre zuvor beim Eishockey. Am 19. Januar 1969 verbrannte sich in Prag der tschechische Student Jan Palach öffentlich aus Protest gegen die Besetzung seines Landes. Die Emotionen waren also ziemlich aufgeputscht, als die tschechische Eishockeynationalmannschaft am 21. und 28. März 1969 in Stockholm die legendäre "Sbornaja" mit 2:0 und 4:3 besiegte. "Auf dem Eis schwenkte ein Zuschauer die CSSR-Fahne. Demonstrativ jubelten die 10.000 Besucher im Stockholmer Johanneshov-Stadion. Als die sowjetischen Eishockey-Hünen in die Arena glitten, schrillte ein Pfeifkonzert", schrieb der Spiegel damals. [1] Sieben Monate nach dem Einmarsch in die CSSR war "das WM-Duell zwischen der UdSSR und der CSSR mehr als nur ein Spiel", erinnert sich SPORT1-Redakteur Wolfgang Kleine. "Alle dachten an den Einmarsch, an die Niederschlagung des 'Prager Frühlings' - und an die Revanche." [2] Das hat sich bei denen, die die Ereignisse miterlebten, tief ins Gedächtnis eingebrannt. Noch jetzt, mehr als 40 Jahre danach, denken wir daran.

Heute Abend findet in Kopenhagen der 59. Eurovision Song Contest (Grand Prix Eurovision) statt. Musikalisch seit langem eher belanglos, wurde das diesjährige Event zum Stellvertreterkrieg zwischen den "bösen Russen" und dem "dekadenten Westen" aufgeblasen. "Die Ankündigung, dass es die russischen Tolmatschowa-Schwestern ins Finale schafften, wurde aus dem Publikum mit Buhrufen und Pfiffen quittiert. Die jungen Zwillinge aus Kursk nahe der ukrainischen Grenze treten somit erneut gegen Marija Jaremtschuk aus dem krisengebeutelten Nachbarland an, der ebenfalls der Finaleinzug gelang." [3] In den Medien ist aber zweifellos die Teilnahme des österreichischen Travestiekünstlers Thomas Neuwirth alias "Conchita Wurst" der absolute Höhepunkt. "Die Schaffung der Kunstfigur Conchita Wurst erklärt Neuwirth als Reaktion und Statement gegen Diskriminierungen, die er in seiner Jugend auf Grund seiner Homosexualität erfuhr. Sein Auftreten als Travestiekünstler soll Menschen zum Nachdenken 'über sexuelle Orientierung, aber genauso über das Anderssein an sich' bewegen, damit 'es Jugendliche leichter haben – und zwar egal, aus welchem Grund sie anders als die anderen sind.'" [4]

Bei den überwiegend homophoben Osteuropäern ist die Irritation riesengroß. Aber auch in den österreichischen Zeitungen sind die Leserkommentare uneinheitlich. Manche Österreicher bekunden, sich für ihr Land zu schämen. Andere werten den Auftritt als Zeichen für wachsende gesellschaftliche Reife. Der Song Contest sei eine "Toleranzprüfung", schreibt etwa der linksliberale Standard. "Die offenen Anfeindungen reaktionärer Stimmen aus Ländern wie Russland, Weißrussland oder Armenien vervielfachten die Sympathien für den 25-jährigen homosexuellen Sänger und Travestiekünstler Thomas Neuwirth. Nicht zuletzt auch bei den westlich orientierten Menschen in ebendiesen Ländern. (…) Die Anteilnahme an Wursts Auftritt war groß. Keiner der anderen Teilnehmer hatte vorab so viel Presse wie sie. Wie ein schwuler Mann mit Bart in Frauenkleidern die Toleranz in osteuropäischen Ländern auf die Probe stellt, das war britischen Blättern wie dem Guardian Geschichten wert, auch die FAZ und der Spiegel berichteten ausführlich. Dabei ging es weniger um die Musik, sondern um die Wogen der Entrüstung aus tendenziell wenig toleranten Ländern. Der Kanon: Je autoritärer regiert wird, desto größer ist die Ablehnung. Wer hätte das gedacht?" [5]

So mutiert der ESC, wie einst die Schachweltmeisterschaft oder die Eishockeyspiele der Tschechoslowakei gegen die Sowjetunion, im "Kampf der Kulturen" buchstäblich zum Ersatzschlachtfeld: Die despotischen Russen, die sich gerade die Krim einverleibt haben und in der Ostukraine klammheimlich die Separatisten unterstützen, gegen das Opferlamm Ukraine und die abendländische Wertegemeinschaft, die osteuropäische Prüderie gegen die westliche Dekadenz. So will es uns jedenfalls - hüben wie drüben - die veröffentlichte Meinung weismachen. Und ein bisschen ist ja auch etwas Wahres dran. Thomas Neuwirth hätte es in den osteuropäischen Ländern wahrscheinlich nicht einmal in die nationale Vorausscheidung geschafft. Und ich gestehe, auch in mir weckt sein Auftritt zwiespältige Gefühle aus. Mit einem Wort: gewöhnungsbedürftig. In der Tat, es ist eine Toleranzprüfung. Aber ist es tatsächlich ein Anzeichen für gesellschaftlichen Verfall? Keineswegs, denn die Realität so zu nehmen, wie sie nun mal ist, spricht eher für gesellschaftliche Reife.

Vorurteile, egal gegenüber wem, wollen genau das verhindern. Sie versuchen vielmehr, die Gesellschaft in Schablonen zu pressen. Schablonen, die meist die Interessen bestimmter Kreise widerspiegeln. Zeitweise redete man uns beispielsweise mithilfe dieser Schablonen ein: Franzosen sind unsere Erbfeinde, Juden Untermenschen, Polen Diebe, Arbeitslose Schmarotzer, Griechen faule Säcke und Linke Verfassungsfeinde. Der Wust an Vorurteilen, die durch die menschliche Geschichte mäanderten, lässt sich hier gar nicht abschließend aufzählen. Gerade weil sie zur menschlichen Natur gehören, sind sie schier unausrottbar. Und die Handlungen, die aus ihnen resultierten, von der Hexenverbrennung bis zum Völkermord in Ruanda, machen sie so extrem gefährlich. Ergo: Es gibt Schlimmeres, als der Auftritt eines Travestiekünstlers beim Eurovision Song Contest. Vielleicht hilft er sogar, das ein oder andere Vorurteil zu revidieren oder wenigstens abzumildern. Aber egal wie der ESC ausgeht, die wahren Probleme bleiben dadurch ungelöst. So hat auch der Sieg Bobby Fischers weder den Kalten Krieg beendet noch haben die Eishockeysiege der Tschechen den Menschen in der CSSR die Freiheit gebracht. Will heißen: Es ist einerlei, ob Conchita Wurst oder die Tolmatschowa-Schwestern, die übrigens bezeichnenderweise englisch - früher hätte man gesagt: in der Sprache des Klassenfeindes - singen, am Ende als Gewinner feststehen. Nun ja, wenn es gut läuft ist die Welt danach ein bisschen toleranter geworden, denn manchmal bewirken symbolische Handlungen mehr, als man ihnen anfangs zugetraut hat.

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[1] Der Spiegel vom 07.04.1969
[2] Sport1 vom 28.04.2011
[3] top.de vom 07.05.2014
[4] Wikipedia, Conchita Wurst
[5] Der Standard vom 09.05.2014