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29. Mai 2014, von Michael Schöfer
In dieser Welt muss man ja paranoid werden


Ein Präsident, der ohne jegliche Kontrolle entscheidet, ob jemand getötet wird. Ohne Anklage, ohne stichhaltige Beweise, ohne Konsultation eines Verteidigers, ohne faires Verfahren vor einem ordentlichen Gericht. Und das allein auf der Grundlage von öffentlich nicht nachprüfbaren Geheiminformationen. Hollywood-Blockbuster? Science-Fiction-Roman? Krude Verschwörungstheorie? Nein, nichts von alledem, das ist leider bittere Realität. Fragen Sie mal Barack Obama.

Weltweite Bespitzelung der Kommunikation. Kompromittierung von Hard- und Software durch gezielte Manipulation. Privatsphäre nur noch ein Fremdwort. Die Möglichkeit, jeden x-beliebigen Menschen durch Sabotage zu desavouieren, zu kriminalisieren oder gleich seine gesamte bürgerliche Existenz mit einem Schlag zu vernichten. Hollywood-Blockbuster? Science-Fiction-Roman? Krude Verschwörungstheorie? Nein, nichts von alledem, das ist leider bittere Realität. Fragen Sie mal die NSA? Oder meinetwegen Edward Snowden.

Weigerung der Bundesregierung, den Hauptbelastungszeugen dieser Straftaten zu hören. [1] Weigerung der Generalbundesanwaltschaft, Ermittlungen in der NSA-Affäre aufzunehmen. [2] Und das nicht bloß in Deutschland, sondern beispielsweise auch in Österreich. [3] Demokratien erscheinen als Vasallen und Beamte als Speichellecker. Hollywood-Blockbuster? Science-Fiction-Roman? Krude Verschwörungstheorie? Nein, nichts von alledem, das ist leider bittere Realität. Fragen Sie mal... Ja, wen eigentlich?

Verschlüsselung hilft, sagt Edward Snowden. Doch stimmt das wirklich? Gerüchte über NSA-Hintertüren in Betriebssystemen oder Programmen gibt es schon länger. Doch nun scheinen die Geheimdienste sogar die letzten Bollwerke der Ausspähabwehr anzugreifen - die Kryptographieprogramme. Die weitverbreitete Verschlüsselungssoftware "Truecrypt" sei nicht mehr sicher, heißt es. Das behaupten zur Überraschung aller deren Entwickler höchstselbst. [4] Sie empfehlen stattdessen Bitlocker, die Verschlüsselung von Windows. Ausgerechnet Microsoft! Äußerst merkwürdig.

Seitdem schießen die Spekulationen ins Kraut. Wurden die Truecrypt-Entwickler von der amerikanischen Regierung dazu gezwungen, ihre bislang als sicher geltende Software aufzugeben, weil die Geheimdienste Probleme mit deren Entschlüsselung haben? Stichwort: Patriot-Act. Wurde die Hersteller-Website gehackt und ist demzufolge alles bloß ein Fake? Man soll die neue Programm-Version (7.2) installieren, die aber nicht mehr verschlüsseln kann, nur noch entschlüsseln. Das macht nun überhaupt keinen Sinn, entschlüsseln kann man nämlich auch mit der alten Version (7.1a). User befürchten daher, die neue könnte bei der Entschlüsselung von Verzeichnissen oder Containerdateien im Hintergrund Passwörter übermitteln und so erst recht den Daten-GAU auslösen. Von der Installation der neuen Version wird deshalb dringend abgeraten.

In der Netzgemeinde hat die Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen, die Verunsicherung ist riesengroß. Doch nicht nur Privatanwender sollten sich Sorgen machen, denn die Software kommt auch in Unternehmen und Behörden zum Einsatz. Gibt es überhaupt noch Sicherheit vor Bespitzelung, fragt man sich unwillkürlich. Keiner weiß es. Viele befürchten das Schlimmste, fühlen sich permanent unter Beobachtung. Es wäre schön, wenn das Ganze nur ein Hollywood-Blockbuster, ein Science-Fiction-Roman oder eine krude Verschwörungstheorie wäre, aber die Spekulationen kommen offenbar der Wahrheit ziemlich nahe.

Es ist erschreckend, in dieser Welt muss man ja zwangsläufig paranoid werden. Wie bei Dürrenmatts "Die Physiker" stellt sich womöglich am Ende heraus, dass die echten Irren nicht in der Anstalt sitzen, sondern in den Regierungs- und Geheimdienstzentralen. Der Eindruck, dass da einige ziemlich durchgeknallt sind, verfestigt sich jedenfalls mit jedem neuen Puzzlestück, das bekannt wird.

Was tun, sprach Zeus. Andere Parteien wählen? Hatten wir gerade, aber das Thema Datenschutz scheint bei den Wählerinnen und Wählern eine untergeordnete Rolle zu spielen. Das muss sich unbedingt ändern, sonst wird sich in puncto Bespitzelung nicht allzu viel tun. Politiker reagieren bekanntlich erst, wenn die Abwahl droht. Steigen Sie um auf Linux, das alternative Betriebssystem ist OpenSource-Software und damit zumindest potentiell von jedermann auf Sicherheitslücken und Hintertüren überprüfbar, wenngleich man diese Arbeit naturgemäß Experten überlassen muss. Klingt nach nicht viel, ist aber wenigstens ein Anfang. Wir müssen uns die notwendigen Freiräume ohnehin mühsam Schritt für Schritt zurückerobern.

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[1] Spiegel-Online vom 30.04.2014
[2] Süddeutsche vom 27.05.2014
[3] Der Standard vom 28.05.2014
[4] Heise-Online vom 29.05.2014