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22. Juni 2014, von Michael Schöfer
Putins Trolle sind keine neue Erfindung


Als man Anfang der achtziger Jahre leidenschaftlich über das Für und Wider der Nato-Nachrüstung diskutierte, waren Daten das A und O. Ich weiß noch, wie wir uns über Raketenreichweiten, die Anzahl der dislozierten Systeme und deren Tragfähigkeit die Köpfe heiß redeten. Als eine der wertvollsten Datenfundgruben erwies sich damals das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI, dessen Jahresberichte der Rowohlt-Verlag als Taschenbuch veröffentlichte. Heute undenkbar, die Leser verschlingen bekanntlich lieber Krimis oder "historische" Romane. Die Verlage nennen das "die Krise des Sachbuchs". [1]

In einer Diskussion hat mir seinerzeit jemand den Satz an den Kopf geworfen: "SIPRI - die sind doch kommunistisch unterwandert!" Das sollte die Erörterung von Fakten abwürgen. Hintergedanke: Wenn SIPRI kommunistisch unterwandert ist, erübrigt sich jede Diskussion über die Zahlen des Friedensforschungsinstituts. Nun, die Sowjetunion ist mittlerweile im Orkus der Geschichte gelandet, das 1966 von der schwedischen Regierung (!) gegründete SIPRI gibt es freilich noch immer. Und es gilt nach wie vor als eine der renommiertesten und zuverlässigsten Quellen, wenn es um Rüstungsfragen geht. Die unterstellte kommunistische Infiltration hat sich unterdessen in Luft aufgelöst.

Gelegentlich war man in dieser Zeit sogar als Einzelperson dem Verdacht ausgesetzt, von Moskau bezahlt zu werden. Ich schwöre hoch und heilig, vom Kreml nie auch nur eine Kopeke erhalten zu haben. Hätten die mich bezahlt, hätte ich das Geld bestimmt - getreu der kapitalistischen Maxime - in Apple- oder Microsoft-Aktien angelegt. Angesichts der zwischenzeitlich erfolgten Wertsteigerung der Anteile bräuchte ich mir keine Sorgen mehr um meine Altersversorgung machen. Ich muss irgendetwas falsch gemacht haben, denn mit "mein Haus, meine Yacht, mein Pferd" kann ich selbst jetzt nicht protzen. Tja, der Kreml war eben in puncto Bezahlung schon immer äußerst unzuverlässig. (Achtung: Ironie!)

Das, was in jenen Jahren das kommunistisch unterwanderte SIPRI oder die von Moskau gesponserte "Fünfte Kolonne" war, sind heute "Putins Trolle". Die Süddeutsche brachte es kürzlich an den Tag: "Hunderte bezahlte Manipulatoren versuchen, weltweit die Meinung in sozialen Netzwerken und in Kommentar-Bereichen wie auch bei Süddeutsche.de im Sinne des Kreml zu beeinflussen. Das bestätigen erstmals Strategiepapiere, die Hacker abgefangen haben." Eine Firma mit Sitz in Sankt Petersburg würde im großen Stil "Meinungen im Internet im Sinne des Kreml manipulieren". [2]

Ich will das gar nicht ausschließen, zumal die Süddeutsche versichert, über 138 Megabyte an Daten zu verfügen, die die Behauptung untermauern. So eine Vorgehensweise ist sogar wahrscheinlich, denn sie ist relativ leicht und kostengünstig umzusetzen. Was mich ehrlich gesagt ein bisschen stört, ist zweierlei:

Erstens hinterlässt die Süddeutsche beim Leser unterschwellig den Eindruck, jetzt endlich die Quelle der "Putin-Versteher" enttarnt zu haben. Unausgesprochen schwingt mit: Jeder, der beispielsweise in der Nato-Osterweiterung eine subjektiv empfundene Bedrohung russischer Interessen sieht, tut das natürlich nur auf Geheiß Moskaus. Deshalb braucht man sich - analog zur angeblich kommunistischen Unterwanderung von SIPRI - mit der eigentlichen Argumentation schon gar nicht mehr auseinanderzusetzen. Easy, nicht wahr? Ja, aber dennoch nicht seriös. Stefan Kornelius, Ressortleiter Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung, wehrt sich vehement gegen den Verdacht, er pflege engen Kontakt zu politischen und militärischen Führungskreisen der Nato und würde entsprechend kommentieren. Gleichzeitig werden Menschen, die zum aktuellen Konflikt eine etwas differenziertere Meinung haben, in den Medien als "Putin-Versteher" diffamiert. Die Wahrheit ist selten so einfach, wie sie oberflächlich betrachtet aussieht. Das gilt in Bezug auf Kornelius genauso wie in Bezug auf die Kritiker der Nato.

Zweitens wird suggeriert, die aufgedeckte Meinungsmanipulation sei neu und habe eine andere Qualität. So argumentiert etwa Professor Bernhard Pörksen von der Uni Tübingen im Interview mit dem Deutschlandfunk. [3] Dafür, dass die beschriebene Meinungsmanipulation weder neu noch eine originäre Erfindung Russlands ist, gibt es zum Glück ein paar Belege: "2011 berichtete der britische The Guardian über eine in Auftrag gegebene Software, die es dem US-Militär erlauben soll, über Sockenpuppen Soziale Medien zu manipulieren. Dabei sollen bis zu 50 Militärbedienstete je maximal 10 separate Identitäten kontrollieren können. Ziel soll es demnach sein, unwillkommenen Meinungen entgegenzuwirken und falschen Konsens in nichtenglischsprachigen Online-Foren herzustellen." [4]

Die im englischsprachigen Raum "Astroturfing" genannte Meinungsmanipulation ist weltweit verbreitet: "Die übliche Methode besteht dabei darin, dass sich wenige Personen als große Zahl von Aktivisten ausgeben, die für eine bestimmte Sache eintreten. Sie verschaffen sich Aufmerksamkeit, indem sie beispielsweise Leserbriefe und E-Mails schreiben, Blogeinträge verfassen, Crossposts verbreiten oder Trackbacks setzen. Sie erhalten von einer Zentrale Anweisungen darüber, welche Meinungen sie wann und wo äußern sollen und wie sie dafür sorgen können, dass ihre Empörung oder Anerkennung, ihre Freude oder ihre Wut vollkommen spontan und unbeeinflusst erscheint, so dass die zentral gesteuerte Kampagne den Eindruck echter Gefühle und Anliegen hinterlässt. Oftmals werden Lokalzeitungen Opfer von Astroturfing, indem sie Leserbriefe veröffentlichen, die mit identischem Inhalt auch an andere Zeitungen gesandt wurden." [5]

"Das beste Beispiel ist China, das Blogger bezahlt, um in Foren Kommentare im Sinne der Regierung abzugeben. In Anspielung auf deren Honorar pro Beitrag wird die Masse der gekauften Blogger auch 50-Cent-Partei genannt." [6] Nach den Unterlagen von Edward Snowden sollen "GCHQ und NSA versuchen, Online-Diskurse zu manipulieren und zu kontrollieren". [7]

Israel hat ebenfalls die Nützlichkeit der Social Media für die Meinungsmanipulation erkannt: "Dem Blogger Richard Silverstein übermittelte einer seiner Leser während der Operation Gegossenes Blei Anfang 2009 einen Diskussionsleitfaden des israelischen Außenministeriums für Freiwillige, die in den Internetforen internationaler Medien die Militäroffensive Israels in Gaza verteidigen sollten. Im August 2013 bestätigte das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Berichte über ein Programm, für umgerechnet 583.000 Euro Studenten mit Stipendien auszustatten, die als Gegenleistung pro-israelische Postings auf Facebook und Twitter verbreiten sollen." [8]

Auch in Deutschland wurde Astroturfing schon angewandt: "2009 wurde durch die Bürgerrechtsorganisation Lobbycontrol bekannt, dass die Deutsche Bahn im Jahr 2007 knapp 1,3 Millionen Euro für die 'verdeckte Beeinflussung der Öffentlichkeit' ausgegeben hatte. Dabei wurde mit vermeintlich unabhängigen Umfragen Stimmung gegen die Streiks der Lokführer 2007 und für die Privatisierung geschaffen. Außerdem wurden Foren und Blogs wie Brigitte.de und Spiegel Online mit bahnfreundlichen Beiträgen massiv unterwandert." [9] Hierzulande leider nicht das einzige Beispiel.

Von daher stellt sich die naheliegende Frage: Das, was die amerikanischen, britischen und chinesischen Geheimdienste offenbar intensiv nutzen, sollen die russischen links liegen lassen? Ich bitte Sie, diese Ansicht wäre doch naiv. Es ist vielmehr zu vermuten, dass alle Geheimdienste, die etwas auf sich halten, auf solche verdeckten Methoden zurückgreifen. Das rechtfertigt nichts, ganz im Gegenteil, aber es belegt immerhin, dass die versuchte Meinungsmanipulation des Kreml in Bezug auf die Ukraine-Krise in der Tat weder neu ist noch eine andere Qualität aufweist. Meinungsmanipulation, ob in staatlichem Auftrag oder durch Privatunternehmen praktiziert, ist wohl eher die Regel als die Ausnahme. Es werden naturgemäß bloß die wenigsten Fälle bekannt. Waren es früher die Leserbriefspalten der Zeitungen, sind es heute die interaktiven Funktionen des World Wide Web. Geändert hat sich lediglich das Medium. Insofern begründen Putins Trolle keineswegs eine revolutionäre Vorgehensweise. Und hierbei reden wir noch nicht einmal vom Lobbyismus, der praktisch überall im Politikbereich seit langem dazugehört.

Das soll aber andererseits nicht heißen, dass alle Meinungsäußerungen manipuliert sind und im Internet ausschließlich Putins Trolle mit Obamas oder Camerons Trollen um die Meinungshoheit kämpfen. Anders ausgedrückt: Nicht jede Meinung, die die Motive Russlands berücksichtigt, ist gelenkt und damit von vornherein unbeachtlich. Henry Kissinger [10], Helmut Schmidt [11] oder Günter Verheugen [12] würden sicherlich jede Unterstellung, auf der Lohnliste des Kreml zu stehen, empört zurückweisen. Genauso wenig ist die Forderung, Deutschland müsse in der Welt mehr Verantwortung zeigen, a priori von dunklen Mächten aus dem Hintergrund gesteuert. Es gibt in beiden Fällen sowohl gute Gründe dafür wie dagegen.

Zu guter Letzt ist der mit friedlichen Mitteln ausgetragene Meinungskampf unbestreitbar ein elementarer Bestandteil der Demokratie. Zweifellos gibt es ständig Versuche, Meinungen mit unlauteren Mitteln zu beeinflussen. Auf allen Seiten, wohlgemerkt. Gott sei Dank gibt es ein einfaches, aber recht wirkungsvolles Gegenmittel: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." (Immanuel Kant) Kurzum, bilde dir deine Meinung, indem du die Fakten bewertest. Und nicht, indem du dem lautesten Geblöke der Schafe folgst.

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[1] Verkaufszahlen 2012 gegenüber 2011: Belletristik +0,6 %, Sachbuch -6,2%, Börsenblatt.net vom 01.08.2013
[2] Süddeutsche vom 13.06.2014
[3] Deutschlandfunk vom 21.06.2014, Putins Trolle oder: Wem kann man noch trauen?, Der Kampf um die Deutungshoheit im neuen Ost-West-Konflikt, mp3-Datei mit 6,7 MB
[4] Wikipedia, Sockenpuppe (Netzkultur) und The Guardian vom 17.03.2011, Revealed: US spy operation that manipulates social media
[5] Wikipedia, Astroturfing
[6] Die Zeit-Online vom 08.03.2011
[7] Wikipedia, Astroturfing, Andere Länder
[8] Wikipedia, Astroturfing, Andere Länder
[9] Wikipedia, Astroturfing, Deutschland
[10] Friedrich-Ebert-Stiftung, Referat Internationale Politikanalyse, ipg-journal vom 06.03.2014
[11] Die Zeit-Online vom 26.03.2014
[12] Deutschlandfunk vom 18.03.2014