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01. Juli 2014, von Michael Schöfer
Ach, könnt' ich doch morsen


Gestern Abend habe ich mir, obgleich zugegebenermaßen kein waschechter Fußballfan, das Achtelfinalspiel der deutschen Nationalmannschaft angesehen. Ich will jetzt nicht den zweiundachtzigmillionsten Bundestrainer spielen, aber wenn ich Jogi Löw angesichts des glücklichen 2:1 gegen den Fußballzwerg Algerien einen guten Rat geben darf... Nun ja, lassen wir das. Was mich viel mehr aufgewühlt hat als der Einzug der Deutschen ins Viertelfinale, war der Umstand, dass ich nach dem Spiel anscheinend weltbewegende Ereignisse verpasst habe. Und das kam so:

Als ordentlicher Arbeitnehmer, der seinem Brötchengeber natürlich immer die volle Arbeitskraft zur Verfügung stellt, bin ich kurz nach dem Abpfiff so gegen 0:15 Uhr brav ins Bett gegangen. Offenbar ist es dann gleich danach passiert. Denn kaum lag ich einschlafbereit auf der Matratze, fuhren zahlreiche Autos laut hupend durch unseren Stadtteil. Nanu, dachte ich, was ist denn jetzt passiert? Sind etwa die üblichen Kommunikationswege (Radio, Fernsehen, Internet, Telefon etc.) zusammengebrochen? Die Autofahrer werden ja wohl kaum ohne triftigen Grund ihren Mitmenschen den Nachtschlaf rauben. Wahrscheinlich haben sie mit der Hupe Morsezeichen gegeben und dringend auf etwas aufmerksam machen wollen, allerdings konnte ich das in Unkenntnis des Morsealphabets nicht dechiffrieren. Heute hat ja jeder ein Handy, wozu also noch Morsezeichen lernen?

Was wollten uns die Autofahrer unter Rückgriff auf diese antiquierte Methode mitteilen? Will der Islamische Staat hierzulande ein Kalifat errichten? Hat Angela Merkel, ähnlich wie Juan Carlos, überraschend abgedankt? Und wer folgt der kinderlosen Christdemokratin nach? Schwiegersöhnchen Ronald Pofalla? Oder kommen endlich die Russen? Deren Invasion wird ja seit ewigen Zeiten angekündigt - ohne dass die bislang wie prophezeit an den Rhein vorgestoßen wären. Darauf aufmerksam machen, dass die Fußballnationalmannschaft gewonnen hat, kann es nicht gewesen sein, denn darüber waren wir ja schon informiert, schließlich saß während des Spiels zwischen Flensburg und Berchtesgaden die halbe Nation vor den Fernsehgeräten.

Ach, könnt' ich doch morsen. SOS hätte ich zwar bestimmt ohne die entsprechende Ausbildung erkannt, ist ja weltberühmt (dididit dahdahdah dididit). Auch das "V" für "Victory", das die BBC im Zweiten Weltkrieg über den Äther sandte (di di di dah), ist mir hinlänglich bekannt. Damit fängt nämlich der Kriegsfilm "Der längste Tag" an. Woran Sie sehen, wozu Geschichtsunterricht à la Hollywood gut ist... Aber das gestern Nacht hörte sich ungefähr so an: dah dah dah dah dah dah dah, zwischendrin gelegentlich ein di di di di. Sorry, da muss ich passen, denn diese Tonfolge steht, wie ich nachträglich herausfand, in keiner Codetabelle. Immerhin war ich nicht der Einzige, der rat- und schlaflos in den Federn lag. Ab und zu hörte man sogar junge Frauen etwas aus den vorbeifahrenden Autos herausschreien. Doch selbst davon verstand ich nicht ein Wort, denn kaum ans Schlafzimmerfenster gestürmt, waren die Autos auch schon um die nächste Ecke gebogen. Noch lange hörte ich gedämpft, wie sie in den angrenzenden Straßen die dort Wohnenden ebenfalls vor großem Ungemach zu warnen versuchten.

Und nun die freudige Überraschung: Als ich heute früh übernächtigt aufwachte, war die Welt genauso heil wie zuvor. Kein Krieg, keine Naturkatastrophe, keine kostenlose Bild-Zeitung im Briefkasten... Jedenfalls nicht in Mannheim. In den Nachrichten brachten sie bloß die Meldung, dass Deutschland Algerien mit 2:1 geschlagen hat. Aber das wusste ich ja bereits. Von den nächtlichen Warnsignalen und deren Ursache kein einziges Wort. Verschwörungstheorie: Da wird uns bestimmt etwas Schlimmes verschwiegen... Typisch Mainstreammedien.

Ach, könnt' ich doch morsen. Ich hätte die hupenden Autofahrer wenigstens verstanden und den brüllenden Mädels auf dem Beifahrersitz vielleicht sogar helfen können. Mal abwarten, ob die heute Nacht erneut durch die Straßen brausen. Nur Löws Mannen kann ich von hier aus nicht beistehen, da hilft weder das heftige Fahnenschwenken vor der Glotze noch das Aufstehen bei der Nationalhymne (pathetisch mit der Hand am Herz, bis der Schrittmacher Aussetzer bekommt). Wie ich in der ersten Halbzeit feststellen musste, ist auch rhythmisches Klatschen auf dem Sofa völlig nutzlos. Kurioserweise ist Bierkonsum wiederum enorm leistungsfördernd, denn je mehr ich intus hatte, desto besser kamen die deutschen Spieler in Schwung. Ich gelobe, künftig schneller zu trinken, damit die nicht immer in die Verlängerung oder gar ins Elfmeterschießen müssen. Großes Indianerehrenwort. Na denn, prost! Oder anders ausgedrückt: di di di dah.