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05. Juli 2014, von Michael Schöfer
Verdächtig


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat das in Frankreich erlassene Burka-Verbot für rechtens erklärt (Burka = Ganzkörperschleier). "Es sei 'legitim', wenn der Staat mit solchen Maßnahmen die Voraussetzungen für ein Zusammenleben in der Gesellschaft wahren wolle. Die Burka errichte eine Barriere zwischen ihrer Trägerin und der Umwelt und untergrabe damit das Gefühl des Zusammenlebens in einer Gesellschaft, hieß es. Das Verbot sei daher angemessen." [1] Das Argument, das Burka-Verbot sei aus Gründen der öffentlichen Sicherheit notwendig, wiesen die Richter allerdings zurück.

Geheimdienste denken genau andersherum, bei ihnen steht vor allem die Sicherheit im Vordergrund. Wie gefährlich solche Kleidungsstücke sein können, hat kein Geringerer als Mustafa Kemal Atatürk, der Vater der modernen Türkei, demonstriert: Einer Biographie über die Ehefrau des Staatsgründers zufolge soll Atatürk aus einem von Putschisten umstellten Haus als Frau verkleidet unter einem langen, schwarzen Tschador geflohen sein. [2] Ausgerechnet der Laizist Atatürk. In Dänemark ist einem Häftling, der in eine Burka gehüllt war, die Flucht aus dem Gefängnis gelungen. [3] In Afghanistan und Pakistan wiederum haben Selbstmordattentäter mehrfach mit einer Burka als Frau verkleidet erfolgreich Anschläge verübt. [4] Burkas sind also durchaus verdächtig, es kommt eben bloß auf den Kontext an (trotzdem kann man über das Urteil des EGMR geteilter Meinung sein). Westlichen Geheimdiensten geht es momentan jedoch hauptsächlich um elektronische Burkas: Verschlüsselungssoftware.

Die Menschen sind erschreckend naiv. Was glauben Sie, wozu die NSA gegründet wurde? Zum Bespitzeln natürlich. Im Zweiten Weltkrieg entschlüsselten britische Kryptoanalytiker im Bletchley Park den deutschen Nachrichtenverkehr. Ein wichtiges Puzzlestück beim Sieg über Nazi-Deutschland. Und was die Briten hatten, wollten die Amerikaner natürlich ebenfalls - insbesondere nachdem sie sich mit der Sowjetunion in den Kalten Krieg verstrickten. Der NSA konnte zudem gar nichts Besseres passieren, als die Erfindung des Personalcomputers und des Internets. Spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem die Menschen begannen, die grauen Kisten in ihre Wohnungen zu schleppen und untereinander zu vernetzen, musste sich der Geheimdienst vorgekommen sein wie im Schlaraffenland. Die User glaubten, mit Tetris oder was auch immer zu spielen, in Wahrheit spielte die NSA mit ihnen. Stets im Hintergrund lauernd, versteht sich. Firmencomputer erwiesen sich überdies als wahre Fundgruben.

Die NSA macht eigentlich genau das, wozu sie gegründet wurde. Und rückblickend gesehen kann man den Geheimdienstmitarbeitern alles vorwerfen, bloß nicht faul auf ihren vier Buchstaben herumgesessen zu haben. Keine Sesselfurzer also. Mittlerweile reicht der Blick der NSA in die feinsten Verästelungen unserer Kommunikation hinein. Sie haben eine echte Meisterleistung vollbracht: Ihnen bleibt offenbar nichts mehr verborgen. Und alle sind verdächtig, insbesondere diejenigen, die sich der Überwachung zu entziehen versuchen. Schon allein wer sich mit Verschlüsselungssoftware befasst, etwa dem Tor-Netzwerk, gilt in Fort Meade als Extremist. [5]

"Sind Sie ein Extremist", fragt Die Zeit ihre Leser. "Wenn Sie auf diesen Link klicken, wären Sie es nach Ansicht der NSA schon. Sie landen dann möglicherweise in einer Datenbank des US-Geheimdienstes." Der Link führt zur Website von "Tor". Aber es kommt noch besser: Sogar wer lediglich das Wort "Tor" in die Suchmaschine eingibt, gilt der NSA angeblich schon als verdächtig. [6] Ich bin folglich bereits mehrfach in den Speichern der NSA erfasst: Erstens habe ich allen Warnungen zum Trotz die Website des Tor-Projekts angeklickt. Zweitens befasse ich mich ein bisschen mit Verschlüsselung. Und drittens habe ich während der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien bei Google nach dem Wortlaut der berühmten Reportage von Herbert Zimmermann gesucht, der hatte nämlich anno 1954 beim WM-Finale in Bern aufgeregt ins Mikrophon geschrien: "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!“ Tja, da haben wohl schon die Suchbegriffe "Bern", "Reportage" und "Tor" (!) ausgereicht, um mich der NSA verdächtig erscheinen zu lassen. Seitdem bin ich vermutlich in deren Archiven verewigt. Kurios, nicht wahr? Das mag spinnert klingen, aber nach allem, was man derzeit liest, ist diese Annahme nicht unrealistisch.

Wer nicht erkannt werden will, so die Folgerung der Schlapphüte, hat etwas zu verbergen. Greifen wir als Paradebeispiel die Anonymous-Aktivisten heraus, man erkennt sie zumeist an den als Symbol, aber auch zur Identitätsverschleierung getragenen Guy-Fawkes-Masken. Wer zum Teufel war Guy Fawkes? Antwort: Ein Terrorist! Der wollte nämlich am 5. November 1605 das englische Parlament mitsamt dem König in die Luft jagen. "Remember, remember the Fifth of November", reimt man in England noch heute. Beiläufig bemerkt habe ich der NSA mit den Suchbegriffen "Anonymous", "Guy Fawkes" und "Attentat" einen weiteren Grund geliefert, mich als verdächtig zu registrieren. Und Sie, werte Leserinnen und Leser, haben sich durch das Anklicken meiner Website ebenfalls verdächtig gemacht. Denn wer einen Artikel liest, in dem im weitesten Sinne davon die Rede ist, ein Parlament und ein Staatsoberhaupt in die Luft zu jagen, hat schon keine blütenreine Weste mehr. Jedenfalls in den Augen der NSA. Dass es sich um ein geschichtliches Ereignis aus dem Jahr 1605 handelt, ist sekundär. Naheliegende Schlussfolgerung: Wer sich über historische Bombenattentate informiert, hat vielleicht selbst ein Bombenattentat vor. Ei, ei, ich wusste gar nicht, welch schlimme Leserschaft ich habe...

Extremisten sitzen natürlich auch in den Parlamenten, einerlei ob im US-Kongress oder im Deutschen Bundestag, denn dort maßt man sich doch tatsächlich an, die Geheimdienste kontrollieren zu wollen. De jure (d.h. gemäß dem Buchstaben und dem Geist der Verfassung) haben die Parlamentarier zwar das Recht dazu, aber de facto kontrollieren die Geheimdienste die Volksvertreter (in den USA sollen sie zum Beispiel den Geheimdienstausschuss bespitzelt, dessen Dokumente manipuliert und Kongressmitarbeiter bedroht haben). Vom gemeinen Volk ganz zu schweigen. Das ist paranoid, aber im Grunde bloß die zu Ende gedachte Konsequenz ausufernder Geheimdienstarbeit. Um Missverständnissen vorzubeugen: Paranoid sind die Überwacher, nicht die Überwachten. Der frühere NSA-Mitarbeiter William Binney hat es jüngst vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages so ausgedrückt: "Sie wollen Informationen über alles haben. Das ist wirklich ein totalitärer Ansatz, den man bislang nur bei Diktatoren gesehen hat." Ziel sei die Kontrolle der Menschen. [7] Muss man eigens erwähnen, dass die US-Geheimdienste allem Anschein nach mithilfe eines BND-Mitarbeiters auch diesen Ausschuss ausspioniert haben?

Geheimdienste, die sich nicht an die Gesetze halten, braucht niemand. Im Gegenteil, sie werden zur Gefahr für die eigene Bevölkerung. Denn das, was ursprünglich notwendig war, die Beschaffung von Informationen über äußere und innere Feinde der Demokratie, mutiert durch die Maßlosigkeit der Überwachung zu einem Krebsgeschwür, an dem die Demokratie zugrunde gehen kann. Erinnert sei hier exemplarisch an Gladio, an die Propaganda Due (P2) oder an den Tiefen Staat - dubiose Netzwerke aus Militär, Geheimdiensten, Politik, Justiz, Verwaltung, Wirtschaft und Organisierter Kriminalität. Und alles in Nato-Staaten existent gewesen, Angehörigen der "Wertegemeinschaft" also (in Bananenrepubliken hätte es keinen gewundert). Vermutlich wuchern im Verborgenen längst Metastasen. Nein, in Wahrheit sind nicht wir verdächtig, sondern die Geheimdienste. Anstatt die Demokratie zu schützen, zerstören sie sie. Es wird Zeit für eine Krebstherapie.

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[1] Süddeutsche vom 01.07.2014
[2] Der Tagesspiegel vom 12.10.2008
[3] Focus-Online vom 08.10.2012
[4] Spiegel-Online vom 09.06.2012 oder Handelsblatt vom 01.10.2007
[5] tagesschau.de vom 03.07.2014
[6] Die Zeit-Online vom 04.07.2014
[7] Spiegel-Online vom 03.07.2014