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10. Juli 2014, von Michael Schöfer
Die wahre Ursache liegt in uns selbst


Der Mensch ist furchtbar primitiv, sogar noch im 21. Jahrhundert. Dafür gibt es harmlose und weniger harmlose Beispiele. Nehmen wir etwa den Nationalsport Nr. 1: Fußball. Aggressivität, von einstudierten Hassgesängen bis hin zum völlig sinnentleerten Hooliganismus, prägt die Realität in unseren Stadien. Genau so stelle ich mir die Atmosphäre bei den römischen Gladiatorenkämpfen im Circus Maximus vor. Bloß werden heutzutage in den Arenen keine Menschen mehr getötet, man tritt sie - siehe Neymar - höchstens brutal zusammen. Insofern sind wir in den letzten 2.000 Jahren wenigstens ein bisschen zivilisierter geworden.

Religionen sind ebenfalls ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, sie zählen wahrscheinlich zu den ältesten kulturellen Ausprägungen der Menschheit. Doch obgleich wir Blitze inzwischen als nachvollziehbaren physikalischen Vorgang erkannt haben und der zornige Zeus somit als deren Ursache ausgedient hat, spielt Religion in anderen Bereichen nach wie vor eine nicht zu unterschätzende psychologische Rolle. Die Menschen brauchen eben Erklärungen.

Bleiben wir beim Stichwort Fußball: "Gott hat uns verlassen", anders können sich viele Brasilianer die demütigende Niederlage ihrer Seleção gegen Deutschland (1:7) einfach nicht erklären. Warum Gott ausgerechnet die brasilianischen Nationalspieler im Stich ließ, obgleich die sich ständig demonstrativ bekreuzigen und obendrein ein Rosenkranz für die guten Reflexe des Torhüters Júlio César beim Elfmeterschießen gegen Chile verantwortlich gewesen sein soll, ist ihnen absolut unverständlich. Jedenfalls hat die Niederlage im WM-Halbfinale nach Überzeugung der brasilianischen Fans irgendetwas mit Gott zu tun, die schlechte Leistung der Mannschaft oder die falsche Taktik des Trainers können es schließlich nicht gewesen sein. Diese Erklärung wäre ja auch zu profan.

Darüber mag man noch milde lächeln, in anderen Bereichen spielt Religion dagegen eine viel ernstere Rolle. Im Irak kämpfen Sunniten und Schiiten gegeneinander, das Land versinkt mehr und mehr im Chaos. Natürlich haben alle Beteiligten Gott auf ihrer Seite. Behaupten sie zumindest. In Jerusalem verbrannten offenbar radikale Juden einen 16-jährigen Palästinenser bei lebendigem Leibe, kurz nachdem mutmaßlich radikale Islamisten drei israelische Jugendliche ermordeten. Vermutlich immer mit dabei: Gott. Bei beiden Verbrechen, versteht sich. Nur halt jeweils der eigene. In Myanmar gibt es Ausschreitungen von Buddhisten gegen Muslime. In Indien schüren wiederum radikale Hindus den Hass auf ihre muslimischen Landsleute, dort wurde zu allem Überfluss auch noch der Hindu-Nationalist Narendra Modi mit überwältigender Mehrheit zum Ministerpräsidenten gewählt. Und in den USA sowie in Südamerika nimmt der Einfluss christlicher Fundamentalisten mittlerweile bedenkliche Ausmaße an.

Religion dient zur Rechtfertigung jeder noch so verqueren Ansicht und jeder noch so bestialischen Handlung. Es wird Zeit, dass wir diese archaischen Deutungsversuche endlich hinter uns lassen. Ob christliche, jüdische, muslimische, hinduistische, buddhistische etc. - völlig gleichgültig. Denn es gibt keinen Gott, der Glaube an die Existenz eines höheren Wesens ist alles nur Einbildung. Und deren Wurzeln sind in der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Homo sapiens zu suchen, tief verborgen im Urgrund unseres Primatendaseins.

Allerdings sollte man sich nicht der Illusion hingeben, mit dem Ende der Religionen käme auch das goldene Zeitalter des ewigen Friedens. Nein, vollkommen falsch. Täter ist nämlich stets der Mensch, Religion dient ihm lediglich als bequeme Rechtfertigung seiner Grausamkeit und seines Egoismus. Die wahre Ursache liegt in uns selbst. Wir müssen es bloß erkennen. Und vielleicht hilft diese Erkenntnis dann auch ein bisschen weiter.