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15. Juli 2014, von Michael Schöfer
Retro ist in


Es gibt ja Motorradfahrer, die auf "naked bikes" stehen, also Maschinen ohne Plastikverkleidung (Schimpfwort: Joghurtbecher). Möglichst ursprünglich sollen sie sein, Retro ist eben in. Doch das gilt nicht bloß in Bezug auf Motorräder, auch in Politik und Wirtschaft ist die Besinnung auf das Ursprüngliche neuerdings wieder gefragt. Nein, keine Angst, das bedeutet jetzt nicht, dass man Konrad Adenauer exhumieren und abermals zum Bundeskanzler machen will. Auch die Managementmethoden eines Gustav Krupp von Bohlen und Halbach sollen keine fröhliche Urständ feiern. Vielmehr setzt man in Politik und Wirtschaft künftig alle Hoffnungen auf die Benutzung von Schreibmaschinen. Am besten auf mechanische. Ja, ja, reiben Sie sich nur verwundert die Augen.

"NSA-Ausschuss prüft Rückkehr zur Schreibmaschine", titelt die FAZ. "Der NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags will seine Kommunikation sicherer machen, um sich vor weiteren Spähangriffen der USA zu schützen." [1] Angeblich gebe es momentan "einen regelrechten Run" auf Schreibmaschinen, zitiert die FAZ einen Vertreter der deutschen Traditionsmarke Olympia. "Seit den Enthüllungen rund um das millionenfache Abhören, Ausspähen und Manipulieren des digitalen Datenverkehrs in den Kommunikationsnetzen der Welt habe die Nachfrage nach Schreibmaschinen angezogen. Behörden und Konzerne zählen zu den Kunden", schreibt das Blatt. [2] Das ist zwar nachvollziehbar, aber im Internet-Zeitalter sicherlich keine Dauerlösung. Retro wird hier wohl kaum zum Massenphänomen. Oder doch? Das Ganze spiegelt zumindest die tiefgreifende Verunsicherung wider, die aus der unverhältnismäßigen Sammelwut der Geheimdienste resultiert. Und die Hilflosigkeit, weil es kein wirksames Gegenmittel gegen die technologische Übermacht von NSA & Co. zu geben scheint.

Dabei haben wir noch nicht einmal alles erfahren, es gibt nämlich noch viel mehr Möglichkeiten. Zumindest potentiell. So kann etwa der britische Geheimdienst GCHQ "Daten im Internet manipulieren, Online-Umfagen verfälschen oder nicht genehme Videos zensieren". [3] Selbstverständlich geht es bei alldem um politische Propaganda - weniger darum, das Zuschauervotum beim Eurovision Song Contest zu beeinflussen (obgleich der Ausgang des diesjährigen ESC durchaus eine politische Aussage enthielt). Schon allein das Ranking der beliebtesten Politiker beim ZDF-Politbarometer oder beim beim ARD-Deutschlandtrend zu fälschen, könnte den Ausgang von Wahlen ändern. Angela Merkel seit Jahren an der Spitze der Beliebtheitsskala? Tatsächlich oder bloß von GCHQs Gnaden? Wer weiß das heutzutage schon genau? Niemand! Was, wenn der beliebteste Politiker Deutschlands in Wahrheit auf den Namen Jürgen Trittin hört?

Klingt zugegebenermaßen etwas weit hergeholt, doch in einer Welt, in der beispielsweise die amerikanischen Geheimdienste ihre Kontrolleure, die Abgeordneten auf dem Capitol Hill in Washington, belügen und manipulieren, sind noch viel schlimmere Dinge möglich. Manche Staaten erwägen ja, Online-Wahlsysteme zuzulassen. Gefährlich, gefährlich - nicht nur wegen der nachgewiesenen Manipulationsanfälligkeit von Wahlcomputern. Was, wenn die Geheimdienste ihre technischen Fähigkeiten zur Wahlfälschung einsetzen? Europagegner Nigel Farage und seine United Kingdom Independence Party (UKIP) Sieger der nächsten Unterhauswahlen? Unter bestimmten Umständen (E-Voting!) für das GCHQ vielleicht ein Kinderspiel. Gewissermaßen per Knopfdruck ließe sich die Geschichte Europas ändern. Und das Beste ist: Vermutlich würde keiner den Betrug bemerken.

Wir stehen womöglich am Anfang einer Entwicklung, an deren Ende eine kleine Gruppe von einflussreichen Usurpatoren die Demokratie untergräbt, indem sie Wahlen fälscht und Minderheitsinteressen durchsetzt. Elegant und nahezu unbemerkt, nicht auf die plumpe Tour eines Wladimir Putin. Mit autonomen Waffensystemen (Drohnen, Kampfroboter etc.) könnte sie sogar Aufstände niederschlagen. Klingt nach einer kruden Verschwörungstheorie, aber das hat man vor Edward Snowden auch zu den Warnungen vor einer Überwachung in geradezu orwellschen Ausmaßen gesagt. Und wer bekam recht? Hätte jemand vor einem Jahr prophezeit, dass mechanische Schreibmaschinen eine Renaissance erleben, hätte man darüber höchstens nachsichtig gelächelt. Insbesondere, wenn es dabei um die Arbeit von Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages gegangen wäre. Mechanische Schreibmaschinen? Im Internet-Zeitalter? Schließlich hat heute jeder ein Smartphone, Notebook oder Tablet dabei, während zuhause der Fernseher, der Stromzähler, die Spielkonsole und demnächst wahrscheinlich auch der Kühlschrank mit dem World Wide Web verbunden ist. Ihre Daten lagern Bürger und Firmen natürlich in der Cloud. Staubige Archive, in denen Papierakten peu à peu vergilben, sind out. Tja, völlig falsch gelegen! Retro ist offenbar auch hier wieder in. Wir leben fürwahr in einer verrückten Welt.

Seltsamerweise kommt mir an dieser Stelle ein Zitat des britischen Schriftstellers Douglas Adams in den Sinn: "Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau herausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch noch etwas Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. - Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist." Will heißen: Wir fürchten uns ständig davor, in die Hölle zu kommen. Doch das ist vollkommen unbegründet, denn wir leben bereits mitten in ihr.

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[1] FAZ.Net vom 14.07.2014
[2] FAZ.Net vom 15.07.2014
[3] Heise.de vom 15.07.2014