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| Impressum 23. Juli 2014, von Michael Schöfer Die Deflation hat viele Väter Nun haben auch die hartgesottensten Marktradikalen bemerkt, wie gefährlich die Lage ist: "Angst vor Deflation. Sogar die Bundesbank ist jetzt für höhere Löhne." [1] John Maynard Keynes ist rehabilitiert, weil die neoliberale Schule kleinlaut ihr Versagen eingestehen muss. Der Marktradikalismus hat uns in die schwerste Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geführt, und die seit mehr als drei Jahrzehnten praktizierte Politik der Umverteilung von unten nach oben droht uns jetzt obendrein in den Abgrund der Deflation zu stoßen. Grund: Stagnierende Nachfrage wegen übermäßiger Lohnzurückhaltung. Doch die Deflation hat viele Väter, ich möchte dem geneigten Leser nachfolgend eine kleine Auswahl präsentieren: "Wirtschaft und Bundesbank halten einen Rückgang der Arbeitslosenzahl um eine Million bis zum Jahr 2002 für möglich. Dazu müßten allerdings die richtigen politischen Weichen gestellt werden. Das erklärten Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, und der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), Hans Peter Stihl. Bundeswirtschaftsminister Werner Müller forderte die Gewerkschaften zur Lohnzurückhaltung bei den Tarifverhandlungen 1999 auf." [2] Zusatzinfo: Hans Tietmeyer war laut Wikipedia zumindest bis Mitte 2011 "Kuratoriumsvorsitzender der vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall finanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft". Hans-Olaf Henkel ist stellvertretender Sprecher der AfD und Abgeordneter des Europaparlaments - einer Partei also, die angeblich für eine EU eintritt, "in der jeder Mensch eine angemessen entlohnte Arbeit findet". [3] Der Knackpunkt dabei: Was ist angemessen? Da fallen, so fürchte ich, die Vorstellungen der AfD und ihrer Wähler etwas auseinander. "Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall fordert die neu gewählte IG-Metall-Führung zu einer grundlegenden Erneuerung ihrer Tarifpolitik auf. 'Nur durch Lohnzurückhaltung können Arbeitsplätze gesichert werden', sagte Verbandspräsident Kannegiesser der in Hannover erscheinenden 'Neuen Presse'." [4] Zusatzinfo: Martin Kannegiesser ist laut Wikipedia "einer der Hauptinitiatoren und Kurator der vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall finanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft". [5] "Kräftige Lohnerhöhungen wären dem Bundesbank-Chef [Axel Weber] zufolge nicht die richtige Antwort auf die Mehrwertsteuererhöhung. Die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre habe die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen erhöht und zur Entstehung von Arbeitsplätzen beigetragen. Dieses Erfolgsrezept dürfe jetzt nicht aufgegeben werden." [6] Wolfgang Schäuble fordert Lohnzurückhaltung. [7] Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fordert Lohnzurückhaltung. [8] Der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz fordert Lohnzurückhaltung. [9] Deutschlands Ökonomie-Papst darf in dieser illustren Reihe selbstverständlich nicht fehlen: "Wegen der sich verschärfenden US-Finanzkrise und der weltweit turbulenten Börsenentwicklung drängen Wirtschaftsexperten in Deutschland auf eine große Lohnzurückhaltung in den anstehenden Tarifrunden. Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, sagte der 'Bild'-Zeitung: 'Die US-Krise bedroht die Weltkonjunktur, deshalb wären hohe Lohnsteigerungen jetzt Gift.'" [10] Zusatzinfo: Ein halbes Jahr (!) zuvor hörte sich Hans-Werner Sinn noch ganz anders an: "Der robuste Konjunkturaufschwung in Deutschland wird sich nach Einschätzung des ifo Instituts noch jahrelang fortsetzen und dem Arbeitsmarkt weiteren Schwung verleihen. (...) 'Der Aufschwung ist nach wie vor da, er hat Kraft, er wird sich auch über 2008 hinaus fortsetzen, mit etwas Glück bis zum Ende des Jahrzehnts', sagte ifo-Präsident Hans-Werner Sinn auf der ifo-Jahresversammlung in München. Dabei profitiere Deutschland von der weiterhin florierenden Weltwirtschaft, die den Export ankurbele und der Investitionsgüterindustrie Auftrieb verleihe. 'Deutschland ist im Boom', sagte Sinn." [11] So viel zur Kompetenz von - laut Bild - Deutschlands klügstem Professor. Wenn es nach Sinn ginge, müssten die Löhne noch viel tiefer fallen. Zitat aus seinem Buch "Ist Deutschland noch zu retten?" (Januar 2005): "Jeder, der Arbeit sucht, findet Arbeit, wenn man zulässt, dass der Lohn weit genug fällt, denn je weiter er fällt, desto attraktiver wird es für die Arbeitgeber, Arbeitsplätze zu schaffen, um die sich bietenden Gewinnchancen auszunutzen. (?) Nach einer Untersuchung des ifo Instituts würde unter heutigen Verhältnissen eine Lohnsenkung von durchschnittlich 10 % bis 15 % ausreichen, die Arbeitslosigkeit weitgehend zu beseitigen, wobei bei den gering Qualifizierten sicherlich eine Lohnsenkung um ein Drittel benötigt würde." (Seite 110 und 112) Und er scheut nicht davor zurück, für seine Forderung nach Lohnsenkungen drastische Worte zu benutzen: "Man kann dem Wettbewerb nicht ausweichen. Man muss die Lohnstrukturen akzeptieren, die sich daraus ergeben. Nach unseren Schätzungen müsste der Lohn für einfache Arbeit etwa ein Drittel niedriger sein, um drei Millionen Jobs für Geringqualifizierte zu schaffen. Wir brauchen Lohnstrukturen, die jedem einen Job geben, und sei es für einen Hungerlohn." [12] Ja, Sie lesen richtig, Sinn sagte tatsächlich Hungerlohn. Was aus einem Land wird, in dem man so verfährt, ist beispielsweise in Griechenland zu begutachten. Man fragt sich unwillkürlich, warum es der Demokratischen Republik Kongo (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr 398 US-Dollar) so viel schlechter geht als uns (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr 44.999 US-Dollar). Eigentlich müssten die Unternehmer dort geradezu paradiesische Verhältnisse vorfinden und die Arbeitslosigkeit auf Null drücken. Tja, eigentlich... Wenigstens weiß Hans-Werner Sinn hinterher immer ganz genau, warum er vorher nichts von der Finanzkrise bemerkt hat. Titel eines Buches aus dem Jahr 2009: "Kasino-Kapitalismus: Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist." Steter Tropfen höhlt den Stein. Leider haben die ständigen Forderungen nach Lohnzurückhaltung durchaus Wirkung erzielt (Stichworte: Hartz IV, Ausweitung des Niedriglohnsektors). Zwar sind, wie gewünscht, die Löhne gesunken, aber damit einhergehend auch die Kaufkraft der Konsumenten. Neoliberale sahen ja in Löhnen schon von jeher nur einen Kostenfaktor, dass sie gleichzeitig für Nachfrage sorgen (Henry Ford: "Autos kaufen keine Autos"), wurde geflissentlich übersehen. Hans-Werner Sinn meint dagegen: "Konsum ist schädlich für das wirtschaftliche Wachstum und unnötig für die Konjunktur." [13] Natürlich sieht er gegenwärtig auch keine Deflationsgefahr. [14]
(Erläuterung
des Statistischen Bundesamtes: Der Reallohnindex stellt
die Veränderung der Verdienste der Preisentwicklung
gegenüber und trifft so eine Aussage über die Entwicklung
der "realen" Verdienste)
Jetzt haben sie also (fast) alle Angst vor der Deflation (= Prozess ständiger Preisniveausenkungen). Hauptsächlich wegen den schlimmen Folgen für die Wirtschaft, die fatale Abwärtsspirale funktioniert ungefähr wie folgt: Geringe Nachfrage > Warenüberhang > Preisnachlässe > Kaufzurückhaltung (in Erwartung weiter sinkender Preise) > schrumpfende Umsätze und Gewinne > sinkende Investitionen (wegen fehlender Gewinnerwartungen) > drastische Kostenreduzierungen (Entlassung von Arbeitnehmern) > höhere Arbeitslosigkeit > geringere Nachfrage. Schuldner kommen in die Bredouille, da kreditfinanzierte Sachwerte fortwährend an Wert verlieren, die dafür aufgenommenen Schulden jedoch relativ dazu ansteigen. Schrumpfende Umsätze und Gewinne erschweren die Bedienung von Zins und Tilgung. Unternehmen gehen vermehrt pleite, Banken müssen Kredite abschreiben und geraten ihrerseits in Schwierigkeiten. Die EZB sieht keine Deflation am Horizont. "Die Eurozone steht nicht unmittelbar vor einem allgemeinen Preisverfall", versucht sie zu beruhigen. [16] Was soll sie auch anderes sagen? Sie kann ja wohl kaum zugeben, wie besorgniserregend die aktuelle Preisentwicklung ist. In der Eurozone lag die Inflationsrate im März, Mai und im Juni 2014 bei mageren 0,5 Prozent. Doch die Geldpolitik ist längst an ihrer Grenze angelangt, der Leitzins befindet sich nämlich bereits bei mickrigen 0,15 Prozent. Unter Null kann er bekanntlich nicht sinken, d.h. die EZB hat ihr Pulver nahezu verschossen. Zudem hat die Politik der "schwäbischen Hausfrau" (Stichwort: Austerität) mehr geschadet als genutzt: "Der Schuldenberg der Euroländer und EU-Mitglieder ist zu Jahresbeginn auf einen Rekordwert gestiegen. Nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat kletterte der Schuldenstand der 18 Eurostaaten gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal 2014 auf 93,9 Prozent." [17] Wenn jetzt ausgerechnet die Deutsche Bundesbank für höhere Löhne plädiert, ist das zwar richtig, kommt aber viel zu spät und ist lediglich ein Zeichen, wie groß ihre Verzweiflung sein muss. Trotz herber sozialer Einschnitte ist die Schuldenquote (Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) in den südlichen Krisenstaaten Zypern, Griechenland, Portugal, Italien und Spanien zwischen dem ersten Quartal 2013 und dem ersten Quartal 2014 weiter gestiegen. [18] Oder soll man sagen: Gerade deswegen? Jedenfalls könnte eine erfreulichere Lohnentwicklung in Deutschland helfen, weil wir dann von dort mehr importieren würden. Ändert sich nichts, sind weitere Schuldenschnitte und soziale Einschnitte unumgänglich. Aber genau diese Logik könnte uns in die Deflation führen, denn woher soll das Wachstum kommen, wenn alle bloß sparen? ---------- [1] FAZ.Net vom 20.07.2014 [2] Die Welt vom 28.12.1998 [3] AfD, Das Programm der AfD zur Europawahl 2014 (Kurzfassung), Seite 4, PDF-Datei mit 162 kb [4] Spiegel-Online vom 01.09.2003 [5] Wikipedia, Martin Kannegiesser [6] Handelsblatt vom 21.12.2006 [7] Die Welt-Online vom 27.12.2012 [8] FAZ vom 26.06.2001 [9] Reuters vom 02.02.2011 [10] financial.de vom 25.01.2008 [11] Der Tagesspiegel vom 25.06.2007 [12] Chrismon März 2006, Streitgespräch zwischen dem Leipziger Pfarrer Christian Führer und Hans-Werner Sinn [13] wiwi-treff.de vom 26.03.2007 [14] Wirtschaftsblatt vom 07.07.2014 [15] Statistisches Bundesamt, PDF-Datei mit 214 kb [16] n-tv vom 12.06.2014 [17] Spiegel-Online vom 22.07.2014 [18] Eurostat, Pressemitteilung 115/2014 vom 22. Juli 2014, PDF-Datei mit 221 kb |