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31. August 2014, von Michael Schöfer
Was ist Putins Kalkül?


Über Wladimir Putins Charakter, der bekanntlich im KGB groß geworden ist, sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Exemplarisch hierfür ist sein Verhalten während der Pressekonferenz am Rande des Brüsseler EU-Russland-Gipfels im Jahr 2002: Auf die Frage eines Journalisten der französischen Tageszeitung Le Monde zum Krieg in Tschetschenien entgegnete Putin grob: "Wollen Sie ein radikaler Islamist werden und sich beschneiden lassen? Ich lade Sie nach Moskau ein, wir sind multikonfessionell und haben gute Spezialisten. Ich werde jemanden anweisen Sie so zu beschneiden, dass nichts mehr nachwächst." [YouTube-Video] Das betretene Gesicht von Javier Solana, damals Generalsekretär des Rates der Europäischen Union und Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), sagt mehr als tausend Worte. Kaum zu glauben, spricht so der Präsident einer zivilisierten Nation? Dieser Jargon mag vielleicht in der Lubjanka, seit Lenins Zeiten Sitz des russischen Geheimdienstes, üblich sein. Auf einer Pressekonferenz ist er jedoch absolut deplatziert und wirkt primitiv und brutal - genau so, wie man Putin charakterlich einschätzen darf. Wie hätte er erst reagiert, wenn die Nato damals eine Kolonne weißer Lastwagen nach Tschetschenien geschickt hätte? Oder bewaffnete "höfliche grüne Männchen" in Uniform, aber ohne Hoheitszeichen?

Putin nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau (wie übrigens die meisten Politiker). Wir erinnern uns: Als die "höflichen grünen Männchen" auf der Krim intervenierten, spielte der Kreml-Herrscher zunächst das Unschuldslamm und bestritt jede Einmischung. Später gab er im russischen Fernsehen offen zu, dass es natürlich russische Soldaten waren, die dort in seinem Auftrag handelten. Der Einsatz auf der Krim sei notwendig gewesen. Putins Lüge anscheinend auch. In der gleichen Sendung antwortete er auf die Frage, ob an den westlichen Vorwürfen, in der Ostukraine wären russische Truppen im Einsatz, etwas dran sei: "Unsinn ist das." [1] Es gebe dort keine russischen Truppen, das seien alles ukrainische Bürger, die sich selbst bewaffnet hätten. [2] Das ist nach wie vor die offizielle Haltung Moskaus. Einziges Eingeständnis: Russische Soldaten würden lediglich ihren Urlaub opfern, um in der Ukraine den prorussischen Separatisten zu helfen. Wie muss man sich das praktisch vorstellen? "Chef", fragt ein russischer Soldat seinen Kompanieführer, "darf ich ein paar Kampfpanzer in den Urlaub mitnehmen?" Na klar, das würde jeder Kompanieführer in allen anderen Armeen der Welt ebenfalls sofort gestatten. Eigenständig, versteht sich, d.h. ohne Rücksprache mit der Regierung. "Soldat, nehmen Sie doch für Ihr Urlaubsvergnügen noch ein paar Raketenwerfer mit." Für wie naiv hält uns Putin eigentlich? Seine Unverfrorenheit ist frappierend.

Wladimir Putin hat in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach den Begriff "Neurussland" verwendet. Das ist ein Gebiet, das vor allem den Süden und Osten der heutigen Ukraine sowie Teile Südrusslands umfasst, die am Asowschen und am Schwarzen Meer liegen. Die Kolonisierung Neurusslands begann im 18. Jahrhundert unter Katharina der Großen. Nehmen wir einmal an, Putin würde tatsächlich von der Rückeroberung Neurusslands träumen, was ist dabei sein Kalkül? Das sind arme Gebiete mit einer rückständigen Schwerindustrie und großen Steinkohlevorkommen. Energie hat Russland aber ohnehin schon mehr als genug. Dort wird nichts hergestellt, was sich auf den Weltmärkten verkaufen ließe. Sogar die Kohle ist international nicht konkurrenzfähig, dafür sind nämlich die Förderkosten schlicht zu hoch. Wichtig für Russland sind allenfalls Betriebe, die Waffen oder Waffenteile für die russischen Streitkräfte produzieren. Mit anderen Worten: Wahrscheinlich wäre das Ganze auf Jahrzehnte hinaus ein reines Zuschussgeschäft, schließlich müsste Moskau die Menschen dort ernähren, kleiden und im Winter mit Wärme versorgen.

Riskiert Putin allein deshalb das absehbare Zerwürfnis mit dem Westen? Ist er bereit, dafür auch harte Sanktionen hinzunehmen? Was kann er dabei gewinnen? Der russische Präsident fordert neuerdings die Eigenstaatlichkeit der Südostukraine. Der dürfte alsbald die Aufnahme ins russische Vaterland folgen. Ganz nach dem Beispiel der Annexion der Krim. Selbstverständlich bloß aufgrund des einhelligen Wunsches der Bevölkerung. Die litauische Ministerpräsidentin Dalia Grybauskaite meint zwar, Russland befände sich praktisch im Krieg gegen Europa, doch ist wohl auch ihr klar, dass weder die EU noch die Nato um die Südostukraine kämpfen werden. Allerdings muss der Westen jetzt die Sanktionen drastisch verschärfen, andernfalls erweist er sich als Papiertiger. Die nunmehr einsetzenden Bemühungen, sich von russischen Energielieferungen (Russlands wichtigstem Exportgut) peu à peu unabhängig zu machen, werden der Wirtschaft des größten Landes der Welt vermutlich nachhaltig schaden.

Ist "Neurussland" das wert? Fühlt sich Putin, der momentan für seine rabiate Außenpolitik bei der russischen Bevölkerung großen Zuspruch erntet, innenpolitisch so schwach, dass er dieses Risiko billigend in Kauf nimmt? Das ist rational schwer nachzuvollziehen. Wenn man etwas riskiert, muss der Preis, den man gewinnen kann, höher sein als der, den man dafür bezahlten muss. Wäre es für Russland nicht wesentlich geschickter gewesen, anstatt der Aufspaltung des Landes eine militärisch neutrale Ukraine auszuhandeln? Stichwort: Finnlandisierung. Oder schwebt ihm tatsächlich eine Eurasische Union von Wladiwostok bis XXX vor Augen? Dann wäre er Verfechter großrussischer Ideologie. Sollte Putin indes irrational handeln, ist sein Verhalten naturgemäß unkalkulierbar. Mein Eindruck: Der Kremlchef ist berechnend, aber in diesem Fall verrechnet er sich.

Vielleicht glaubt Putin, dass der Preis, den er für seine Politik zahlen muss, nicht allzu hoch ausfällt. Immerhin könnte er auf die traditionelle Uneinigkeit des Westens bauen. Bislang sind die Sanktionen ja vergleichsweise schwach ausgefallen, Frankreich darf sogar zwei Mistral-Hubschrauberträger an Russland liefern. Die Krämerseele entschuldigt: Vertrag ist eben Vertrag. Dass Putin mit seinem Vorgehen internationale Verträge bricht, wird dabei geflissentlich übersehen. Noch, denn wenn der Standpunkt der litauischen Ministerpräsidentin, dass Putin einen Krieg gegen Europa führt, viele Anhänger findet, dürften sich die Waffenlieferungen an Russland kaum rechtfertigen lassen. (Wer den Westen für begangene Völkerrechtsbrüche kritisiert, darf bei Putin nicht schweigen. Eigenes Unrecht lässt anderes Unrecht nicht zu Recht mutieren. Für alle gilt der gleiche Maßstab.)

Das abgestufte Handeln des Westens, das der Diplomatie eine Chance geben sollte, war sicherlich richtig. Doch wir müssen feststellen, es mit einem Gegner zu tun zu haben, der sich davon kaum beeindrucken lässt. Mit Putins Forderung nach Eigenstaatlichkeit der Südostukraine sind alle denkbaren Kompromisse, zum Beispiel aus der Ukraine einen Föderalstaat zu machen, zerstoben. Es sei denn, sein Vorstoß ist lediglich Verhandlungsmasse. Kiew kann dem Ansinnen des russischen Präsidenten keinesfalls zustimmen, wenngleich sich die ukrainische Regierung militärisch kaum dagegen wehren kann. Doch die Wunden, die Putin der Ukraine damit zufügt, wird man noch nach Generationen spüren. Ist es das wirklich wert? Geschichtliche Parallelen sind stets schwierig, aber man muss konstatieren, dass frühzeitiges Entgegentreten oft besser ist als langes Abwarten. Die Ängste der östlichen Staaten, insbesondere jene mit starken russischen Minderheiten, sind durchaus nachvollziehbar. Das ist kein Plädoyer für den Einsatz der Nato, sie muss freilich klar machen, dass sie bereit und faktisch dazu imstande ist, das Bündnisgebiet zu schützen. Jede Gemeinschaft erodiert, wenn die Sicherheit ihrer Mitglieder zur Disposition steht. Den Beteuerungen Putins, er hege gar keine diesbezüglichen Absichten, ist nach den bisher gemachten Erfahrungen bedauerlicherweise nicht zu trauen.

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[1] Der Tagesspiegel vom 17.04.2014
[2] taz vom 17.04.2014