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07. September 2014, von Michael Schöfer
Es hilft keinem, Putin als Scheusal zu verdammen


Man kann über den russischen Präsidenten Wladimir Putin gewiss viel Schlechtes sagen, er ist ohne Zweifel ein machtbewusster Autokrat, dem westliche Vorstellungen von Demokratie und individueller Freiheit fremd sind. Sein Vorgehen auf der Krim war fraglos völkerrechtswidrig, die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine ist es ebenso. (An diesem Punkt verzichte ich ausnahmsweise darauf, die völkerrechtswidrigen Taten des Westens aufzuzählen.) Aber es hilft keinem, Putin als blutrünstiges Scheusal zu verdammen. Wenn man den Konflikt in der Ukraine wirklich lösen will, muss man ihm auch die Möglichkeit geben, aus der Kiste wieder auszusteigen. Möglichst gesichtswahrend, versteht sich. Es sei denn, man will einen heißen Krieg zwischen dem Westen und Russland provozieren oder spekuliert auf den Sturz des Kremlherrschers.

In jedem Konflikt wird der Gegner dämonisiert. Und meist ist das Bild, das man von ihm zeichnet, total überzogen. Im linksliberalen Standard, einer der renommiertesten Zeitungen Österreichs, wurde vor kurzem die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko interviewt. Putin sei "eine Synthese von Stalin und Hitler der schlimmsten Art", behauptet sie. Und wir alle hätten dieses totalitäre Monster gefüttert und großgezogen. [1] Da spricht, wohlgemerkt, eine Intellektuelle. Wer Putin als Synthese von Stalin und Hitler bezeichnet, bei dem sind offenbar alle Maßstäbe verrutscht. Die Diktatoren waren Massenmörder, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen. Das kann man - bei aller berechtigten Kritik - von Putin bislang nicht behaupten. Der russische Präsident mag zwar ein Autokrat sein, aber es gibt im heutigen Russland weder Massenexekutionen noch Vernichtungslager. Was will uns Sabuschko mit diesem vollkommen verzerrten Bild vermitteln? Ihren eigenen Realitätsverlust? Wer so über Putin denkt, ist natürlich auch zu keinen Kompromissen mehr fähig.

Nebenbei bemerkt: Der Standard hat nicht einmal kritisch nachgehakt, sondern Sabuschkos Verdikt widerspruchslos hingenommen. Und dann fragen Journalisten landauf, landab, warum die Leserinnen und Leser zunehmend den angeblich von ihnen produzierten Qualitätsjournalismus verschmähen. Vielleicht weil diese Art von Journalismus gerade Qualität vermissen lässt?

Apropos Kompromiss: Im Juni hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko einen 15 Punkte umfassenden Friedensplan präsentiert. Der wurde von Moskau reserviert aufgenommen. Der russische Präsident Wladimir Putin hat dieser Tage einen eigenen Sieben-Punkte-Plan zur Lösung des Konflikts in der Ostukraine vorgelegt. Den hat wiederum Kiew zurückgewiesen. Dennoch haben sich Poroschenko und Putin auf einen 14-Punkte-Friedensplan verständigt. Wesentliche Bestandteile sind eine Waffenruhe, ein Gefangenenaustausch, die Einrichtung einer zehn Kilometer breiten Pufferzone an der russisch-ukrainischen Grenze, die Möglichkeit des Abzugs von Söldnertruppen, die Entwaffnung illegaler Kampfverbände und eine Amnestie für diejenigen, die keine schweren Verbrechen begangen haben. Außerdem sollen besetzte Gebäude geräumt und die Dezentralisierung der Macht auf gesetzlichem Wege erreicht werden. [2]

Sicherlich, der Teufel steckt bei solchen Vereinbarungen stets im Detail, doch vergleichen wir einmal grob:

Friedensplan Poroschenko (Juni 2014) Friedensplan Putin (September 2014)
Waffenruhe Waffenruhe
Gefangenenaustausch Gefangenenaustausch
Pufferzone Pufferzone
garantierter Korridor für den Abzug russischer und ukrainischer Söldner humanitärer Korridor für Flüchtlinge und für die Lieferung von Hilfsgütern

In diesen zentralen Punkten ist also eine Übereinstimmung festzustellen, sie sind auch Bestandteil der 14 Punkte umfassenden Einigung. Und was macht die Presse daraus? "Die vorläufige Waffenruhe im Osten der Ukraine ist ein weiteres Meisterstück der Moskauer Kreml-Taktikschule." [3] "Putins 'Friedensplan' ist sein Papier nicht wert." [4] Die Bild-Zeitung vermutet erwartungsgemäß ein Täuschungsmanöver. Natürlich ist es ratsam, den Friedensplan nicht blauäugig zu bejubeln. Misstrauen ist bei derartigen Abkommen ein ständiger Begleiter. Und es muss sich noch herausstellen, ob sich wirklich alle daran halten. Die Waffenruhe scheint ja ziemlich brüchig zu sein. Doch wenn man dem Gegner überhaupt keine Chance lässt, zu einer wie auch immer gearteten Lösung zu kommen, die beide Seiten einigermaßen zufriedenstellt, läuft das Ganze unweigerlich auf einen Krieg hinaus, an deren Ende es nur Sieg und Niederlage gibt. Das ist eine Alles-oder-Nichts-Strategie. Von derlei Kompromisslosigkeit ist dringend abzuraten.

Man sollte sich obendrein vor Einäugigkeit hüten, die übliche Schwarz-Weiß-Malerei führt nämlich zu falschen Schlüssen. In der Ukraine scheinen die Rollen klar verteilt zu sein - die Ukrainer sind natürlich die hilflosen Opfer, die prorussischen Separatisten hingegen die Aggressoren. Doch Vorsicht: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft beiden Konfliktparteien Kriegsverbrechen vor: Entführungen, Folter, Morde. "'Alle Konfliktparteien haben sich gleichgültig gegenüber dem Leben von Zivilisten gezeigt und ihre internationalen Verpflichtungen in unverhohlener Form vernachlässigt', erklärte Generalsekretär Salil Shetty. Die Organisation legt den kriegführenden Parteien unter anderem Folter und Entführungen zur Last. Amnesty lägen 'glaubwürdige Informationen' über Entführungen und Prügel vor, für die Angehörige von Freiwilligenverbänden, die an der Seite der ukrainischen Armee kämpfen, verantwortlich seien. Der ukrainischen Armee werden 'blinde' Bombardierungen vorgeworfen. Amnesty-Mitarbeiter vor Ort hätten zudem Informationen über Folter und Morde gesammelt, die von prorussischen Separatisten verübt worden seien." Amnesty International zufolge mischt sich Russland in den Konflikt ein -  "sowohl durch 'direkte Einflussnahme' als auch durch 'Unterstützung, die sie den Separatisten im Osten der Ukraine gewährt'". [5]

In der Ukraine werden Gesetze beschlossen, die die Freiheit der Presse und den Pluralismus bedrohen: "Der Präsident kann künftig – allein auf der Grundlage von Empfehlungen des Nationalen Sicherheitsrates unter Umgehung der Gerichte und des Parlaments – Vermögen einfrieren, Geschäftsbeziehungen mit Russland und den Transit von Waren durch die Ukraine verbieten. Er kann Kapitalflüsse in das Ausland stoppen und wirtschaftliche oder finanzielle Verbindlichkeiten und Lizenzen aufkündigen. Des Weiteren können Besuche und Konferenzen verboten, Parteien, Organisationen und Unternehmen aufgelöst werden, wenn durch diese aus Sicht des Nationalen Sicherheitsrates 'der Terrorismus finanziert und die Besetzung der Krim unterstützt wird'. Erst im letzten Augenblick waren aus dem Gesetzestext umstrittene Passagen gestrichen worden: Sie hätten es ermöglicht, Medien ohne Gerichtsbeschluss die Lizenz zu entziehen." [6] Die Regierung in Kiew hat bereits den Empfang von 14 russischen Fernsehsendern untersagt. Begründung: Sie würden "Kriegspropaganda und Gewalt" ausstrahlen. [7] Möglicherweise wird auch die Kommunistische Partei der Ukraine verboten und kann deshalb nicht an den geplanten Parlamentswahlen teilnehmen. Alles Methoden, die man - zu Recht - bei Putin kritisiert.

Einerseits muss man Putin entschlossen entgegentreten und ihm die Grenzen aufzeigen, andererseits sollte man sich nicht leichtfertig in eine Sackgasse hineinmanövrieren. Wir brauchen deshalb beides: Eine Strategie des kalkulierbaren Widerstands und zugleich eine Exit-Strategie. Klar ist aber auch, dazu müssen beide Seiten ihren Beitrag leisten. Und worin Putins Beitrag besteht und ob er sich daran wirklich hält, wird sich noch zeigen.

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[1] Der Standard vom 06.09.2014
[2] Die Presse.com vom 05.09.2014
[3] Die Zeit-Online vom 06.09.2014
[4] Die Welt vom 03.09.2014
[5] Süddeutsche vom 07.09.2014
[6] taz vom 14.08.2014
[7] Spiegel-Online vom 19.08.2014