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10. Oktober 2014, von Michael Schöfer
Ökonomen bestätigen mal wieder sämtliche Vorurteile


Dass deutsche Wirtschaftswissenschaftler als unbelehrbar gelten, ist inzwischen kein Geheimnis mehr. Hierzulande sei deren Ausbildung allzu sehr auf das enge Spektrum neoliberaler Wirtschaftspolitik beschränkt, heißt es. Kaum einer der hochgelobten Ökonomieprofessoren hat 2007 die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise vorhergesagt. Und ihre Empfehlungen bewegen sich meist hart an der Grenze zur Realitätsverweigerung, behaupten Kritiker. Eben mehr Ideologie als Wissenschaft.

Das zeigt sich auch jetzt wieder bei der Vorlage des Herbstgutachtens. "Die Konjunkturaussichten für Deutschland trüben sich ein. (…) Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen mit einem abgeschwächten Wachstum in Deutschland. (…) Die Konjunkturforscher machen die Politik der Bundesregierung für den Abschwung in Deutschland mitverantwortlich. 'Die Aussichten für die Konjunktur sind auch deshalb gedämpft, weil Gegenwind von der Wirtschaftspolitik kommt. Das Rentenpaket und die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns wirken wachstumshemmend.' So verhinderten die 'Rentengeschenke der Bundesregierung' eine Senkung des Rentenbeitrags. Zudem nutze die große Koalition ihren Spielraum nicht, um mehr zu investieren. 'All dies wirkt sich wohl negativ auf die private Investitionsneigung aus'." [1]

Für die negativen Konjunkturdaten seien zwar auch die internationalen Krisen und die zu langsame Erholung der Euro-Zone verantwortlich, doch steht bei ihnen eindeutig die Kritik an der Rentenpolitik und der Einführung des Mindestlohns im Mittelpunkt. Wenn man bei Google News mit den Stichworten "Herbstgutachten" und "Austeritätspolitik" sucht, bekommt man bloß einen einzigen Treffer angezeigt (abgefragt am 10.10.2014, 12.25 Uhr). Fragt man mit den Begriffen "Herbstgutachten" und "Mindestlohn" ab, sind es "ungefähr 2.470 Ergebnisse". Das belegt, in welche Richtung die Wirtschaftsforscher zielen. Und deren Kalkül ist, wenn man sich das Echo in den Medien vor Augen führt, voll aufgegangen.

Schön, dass die krude Sparpolitik, die Angela Merkel den europäischen Krisenstaaten aufzwingt, nicht für die zu langsame Erholung der Euro-Zone verantwortlich gemacht wird. Wäre ja auch zu einfach gewesen, einen Zusammenhang zwischen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und der Austeritätspolitik der Kanzlerin zu ziehen. Viel zu einfach... Und vor allem politisch schädlich, denn das könnte ja den bösen Keynesianern hieb- und stichfeste Argumente an die Hand liefern. Investitionsprogramme, die über deficit spending finanziert werden, gelten in Deutschland ohnehin seit langem als Teufelszeug.

Deutschlands Exporte sind im August 2014 gegenüber dem Vorjahresmonat um 1 Prozent gesunken. [2] Die Ausfuhren in die Euro-Zone sind aber um 0,4 Prozent gestiegen. Die Ausfuhren in EU-Länder, die den Euro noch nicht eingeführt haben, sogar um 4,5 Prozent. Stark gesunken sind dagegen die Ausfuhren in Drittländer außerhalb der Europäischen Union, und zwar um satte 4,7 Prozent. Leider werden die Drittländer nicht aufgeschlüsselt. Es wäre interessant zu erfahren, wieso man etwa in den USA, in China oder wo auch immer plötzlich weniger Waren mit dem Label "Made in Germany" bestellt. Ob's wirklich am Mindestlohn liegt, der ja erst 2015 eingeführt wird? Kaum anzunehmen. Dort wird man sich wohl auch kaum an der deutschen Rentenpolitik stoßen. Kaufen die Konsumenten und Firmen in anderen Ländern tatsächlich weniger Luxuslimousinen oder Maschinen, nur weil die hiesigen Arbeitnehmer neuerdings schon nach 45 Versicherungsjahren mit 63 in Rente gehen können? Immerhin hat die Rentenpolitik die Lohnnebenkosten bislang um keinen einzigen Cent erhöht, der Rentenbeitragssatz bleibt vorerst unverändert bei 18,9 Prozent. Das Gesetz trat obendrein erst am 1. Juli 2014 in Kraft. Spannende Frage: Warum brummt der Export jetzt nicht mehr, obgleich er noch vor kurzem durch die Decke ging?

Stimmt, wir investieren zu wenig. Aber das ist doch nicht die Schuld der Arbeitnehmer, deren Reallöhne heute niedriger sind als zur Jahrtausendwende. Und ebenso wenig die der Rentner, deren Rentenniveau peu à peu sinkt. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Warum sollten Unternehmen investieren, wenn es an Kaufkraft mangelt? Die vielen Steuerreformen zugunsten der Unternehmen haben, anders als vorhergesagt, keinen Investitionsboom ausgelöst. Mit den "Reformen" (Agenda 2010) haben die Verantwortlichen vielmehr am Ast zu sägen begonnen, auf dem die Binnenkonjunktur sitzt. Arbeitnehmer und Rentner noch mehr abzustrafen, wird daran keinen Deut ändern. Eher im Gegenteil. Meiner Ansicht nach geht es den überwiegend neoliberalen Wirtschaftswissenschaftlern in erster Linie darum, den Mindestlohn und die Rente mit 63 zu diskreditieren. Bekanntlich sind Fakten irrelevant, wenn es um Ideologie geht. Genau das ist das Bild, das deutsche Ökonomen immer wieder aufs Neue bestätigen.

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[1] Deutsche Welle vom 09.10.2014
[2] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 352 vom 09.10.2014