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31. Dezember 2014, von Michael Schöfer
Kulturimperialismus


Filme prägen. Wer an Spartacus denkt, hat wahrscheinlich Kirk Douglas vor Augen. Miss Marple? Kann nur die Gesichtszüge von Margaret Rutherford haben. Von wem auch sonst? Da tritt die Literaturvorlage verschämt in den Hintergrund, an die erinnert sich nämlich keiner. In den Romanen und Kurzgeschichten von Agatha Christie wird Miss Marple als eine hochgewachsene ältere Dame beschrieben. Margaret Rutherford war alles, aber sicherlich nicht hochgewachsen. Man tritt ihr bestimmt nicht zu nahe, sie als klein und pummelig zu bezeichnen. Obgleich der Roman "Moby Dick" mindestens sieben Mal verfilmt wurde, ist Gregory Peck natürlich der "echte" Kapitän Ahab, jedenfalls soweit man das von einer Romanfigur sagen darf. Genauso wie bei Ian Flemings James Bond. Da können sich Roger Moore, Pierce Brosnan, Daniel Craig & Co. (darunter ein gewisser George Lazenby) noch so abmühen - der einzig "wahre" 007 ist und bleibt Sean Connery. Was, das glauben Sie nicht? Dann fragen Sie mal Ihre Frau. Haben Sie gerade das Aufblitzen in ihren Augen registriert? Bitteschön, da sehen Sie es selbst!

Doch Filme prägen nicht nur unser Personengedächtnis, sie prägen auch unsere Geschichtskenntnisse. Bestes Beispiel: die Indianer. In Hollywood waren sie hauptsächlich für grausame Verbrechen an weißen Siedlern verantwortlich. Außerdem mussten sie ständig auf ihren Mustangs mit lautem Gejohle um Wagenburgen kreisen, nur um sich ohne Sinn und Verstand von den Migranten wie Tontauben abschießen zu lassen. Ja, Migranten - wenn das PEGIDA wüsste... Kritische Filme, die sich mit den Grausamkeiten der weißen Invasoren befassen, also der eigentlichen Wahrheit, sind rar. Entsprechend dünn ist das Wissen über die echten Indianer gesät. Ebenso prägend, aber genauso falsch ist das Bild, das uns die Karl May-Filme vermittelten. Stichwort: Der edle Wilde namens Winnetou. Probefrage: An wen denken Sie dabei? Bestimmt an Pierre Brice. Na, habe ich es Ihnen nicht gesagt? Karl May reiste übrigens erst viele Jahre nach seinem Orientzyklus (u.a. "Durchs wilde Kurdistan") in den Orient. Und die Winnetou-Trilogie wurde 1893 veröffentlicht, nach Amerika kam der Schriftsteller dagegen erstmals im Jahr 1908. Überflüssig zu sagen, dass auch die Drehorte der Karl May-Filme im ehemaligen Jugoslawien lagen. Wer den Apatschen-Häuptling im Wilden Westen der USA wähnte, war Opfer einer Täuschung.

In unseren Tagen geben Filme neuerdings sogar Anlass, mit Krieg zu drohen. Zumindest wenn man Diktator in Nordkorea ist und Kim Jong-un heißt. Angeblich steckt das stalinistische Regime hinter dem Einbruch in die Server von Sony Pictures und hat zudem die Aufführung von "The Interview" mit Anschlagsdrohungen zu verhindern versucht. Weil sich US-Präsident Barack Obama dennoch für die Veröffentlichung des Films stark gemacht hat, drohte Nordkorea martialisch, dem "arroganten und verbrecherischen" Kurs der US-Regierung "mit unentrinnbaren tödlichen Schlägen" zu begegnen. Kim Jong-un weiß um die Gefährlichkeit von Hollywood. Setzt sich erst, von der amerikanischen Filmkomödie verursacht, in den Köpfen der Menschen fest, dass er ein Depp ist, könnte Kim am Ende tatsächlich als Depp in Erinnerung bleiben. Nicht umsonst versuchen Diktatoren einerseits die Medien strikt zu zensieren und sie andererseits in ihrem Sinne als Propagandawaffe einzusetzen.

Folgerichtig hat Ägypten den Bibel-Film "Exodus: Götter und Könige" verboten, und zwar wegen historisch inkorrekter Darstellung des alten Ägyptens. Der Film vermittle wahrheitswidrig den Eindruck, die Juden hätten die Pyramiden gebaut. Und zwar als Sklaven. Offenbar verletzt Regisseur Ridley Scott damit auf schwerwiegende Art und Weise orientalischen Bauherrenstolz. Ferner würde er die Ägypter als peitschenschwingende Wilde darstellen. Präsident as-Sisi muss Sorgen haben... "Bei uns glauben die Leute, was sie sehen", lautet die Begründung für das Verbot. Im Vertrauen, Herr as-Sisi, nicht nur (siehe oben) bei Ihnen. Genau deshalb lassen Sie sich ja auch vom ägyptischen Fernsehen unentwegt als Retter Ägyptens stilisieren, während man Sie hierzulande eher als Autokrat wahrnimmt. Tja, Deutsche sehen halt zu wenig arabische Sender. Der ägyptische Kulturimperialismus schwächelt noch ein bisschen, der amerikanische ist im Vergleich dazu wesentlich effektiver.

"Exodus: Götter und Könige" entstellt die Fakten kurioserweise tatsächlich, denn die Pyramiden sind wirklich von den Ägyptern gebaut worden, vermutlich griffen die Baumeister dabei auf heimische Arbeitskräfte zurück, die Pyramiden waren nämlich vor der angeblich mehr als 400 Jahre dauernden Versklavung der Juden längst fertig. Ob die Juden überhaupt von den Ägyptern versklavt und von Moses befreit wurden, ist überdies äußerst fraglich. Historische Belege und archäologische Nachweise für den Exodus fehlen jedenfalls. Gut möglich, dass das Ganze nur ein Mythos ist.

Dessen ungeachtet kann ein solcher identitätsstiftend sein. Was wäre die jüdische Geschichte ohne den von Moses angeführten Auszug ins Gelobte Land? Genausogut könnte man fragen: Was wäre die Schweiz ohne Rütlischwur? ("Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.") Der ist aber ebenfalls nur ein Mythos. Noch einer: Überlebende des niedergebrannten Troja sollen einst Rom gegründet haben. Das behauptet Vergil in seiner "Aeneis", der trojanische Prinz Aeneas ist danach der Stammvater der Römer. Hätte es in der Antike schon eine Filmindustrie gegeben, würden wir das jetzt alle glauben, der Mythos hätte nahezu ungeprüft Eingang ins kollektive Gedächtnis gefunden. Doch wer liest schon Vergil?

Die Geschichte ist voll von Mythen, Verdrehungen und Halbwahrheiten, denn bei ihrer Abfassung wird solange umgeschrieben, Passendes ins Licht und Unpassendes in den Schatten gerückt, bis sie den Verfassern endlich genehm erscheint. Insbesondere beim Film. "Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat", spottete schon Voltaire. So wichtig Mythen im Einzelfall sein mögen, so misstrauisch sollte man sich ihnen gegenüber verhalten. Das ist kein Plädoyer für Verbote, ganz im Gegenteil, eher ein Plädoyer für ungehemmte Presse- und Meinungsfreiheit. Wenn man Wahrheit als Maßstab für Filmaufführungen gelten ließe, blieben wohl die meisten Bildschirme und Leinwände dunkel. Was wir jedoch brauchen, ist die offene Diskussion über deren Substanz. Motto: Der Wahrheit entspannt ins Gesicht sehen. Das gilt für historische Mythen ebenso wie für religiöse.

Zensur ist generell abzulehnen, weil sie genau das verhindert. Über die Geschichte entscheiden dann meist die, die gerade die Macht in Händen halten. Nicht immer hört sich das so lustig an wie bei Recep Tayyip Erdogan: Muslime hätten, behauptet der türkische Präsident, bereits 1178, also mehr als drei Jahrhunderte vor Kolumbus, Amerika entdeckt. Beweise blieb er indes schuldig. Dabei wissen wir schließlich, es war nicht einmal der Wikinger Leif Eriksson, der um das Jahr 1000 gen Amerika segelte. Es waren, man höre und staune, die Amerikaner selbst, die Amerika entdeckten. Und zwar die Einwanderer, die nach dem Ende der letzten Eiszeit vor ungefähr 15.000 Jahren via Beringstraße den bis dahin menschenleeren Kontinent besiedelten. Merke: Es kommt häufig bloß auf die Perspektive an.

Was die Uramerikaner besser nicht gemacht hätten: sich ihrerseits 1492 von Cristoforo Colombo "entdecken" zu lassen. Keine gute Idee, wie wir heute wissen. Aber Vorsicht: Es ist ein Mythos, dass Winnetou, der Häuptling der Apatschen, ohne die Wiederentdeckung Amerikas durch die Europäer noch weitere 500 Jahre friedlich über die Prärie hinweggefegt wäre. Erstens gab es in Amerika keine Pferde mehr (sie sind vor ca. 10.000 Jahren ausgestorben oder man hat sie ausgerottet und wurden erst durch die Spanier reimportiert). Zweitens ist auch das Bild vom edlen Wilden eine Mär, so folterten beispielsweise die Irokesen traditionell ihre Feinde und verbrannten diese gerne bei lebendigem Leib. Grausamkeit ist eine menschliche Eigenschaft, die man überall antrifft und die es zu allen Zeiten gab.

Ich bin für diese Version der Geschichte: Nachdem Kapitän Ahab den Karl May, der auf Geheiß von Ramses III. die Baupläne für die Pyramiden zeichnete, in Ägypten abgesetzt hat, befreite James Bond zusammen mit Miss Marple den Schriftsteller Moses aus dem Gefängnis von Theben. Der floh sogleich durchs wilde Kurdistan nach Amerika, wo er in der New York Times endlich seine zehn Gebote veröffentlichen durfte. Das kam allerdings in "God’s Own Country" gar nicht gut an. Stellen Sie sich vor, ausgerechnet dort wollte sich niemand an die göttlichen Vorgaben halten (darunter: "Du sollst keine Gefangenen foltern", "Du sollst keine Menschen bespitzeln", "Du sollst nicht mit Drohnen töten"). Gemeinsam mit Wladimir Putin sitzt er nun auf der Krim und wartet darauf, dass sich die Fluten des Schwarzen Meeres teilen. Spätestens dann, wenn der russische Pharao von den Wassermassen verschluckt wird, soll endlich Friede auf Erden herrschen. Kim Jong-un hat das jedenfalls vor kurzem so im Kino gesehen. Großes Indianer-Ehrenwort! Und wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, nur fest genug daran glauben, wird vielleicht sogar ein Teil davon wahr.