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16. Januar 2015, von Michael Schöfer
Wohin das wohl führen wird?


Back to the roots, die Deutungshoheit wiedergewinnen. Der britisch-amerikanische Internet-Kritiker Andrew Keen macht unter anderem folgenden Vorschlag: "Das Netz schwächt Institutionen, die Demokratie braucht starke Institutionen. Das Netz ermöglicht es jedem, Behauptungen in die Welt zu setzen. Institutionen haben es deshalb schwer, ihre Botschaften zu kontrollieren. Wer früher mächtig war, muss sich heute den Bewertungen der früher Ohnmächtigen stellen, das erleben Unternehmen, Behörden, Politiker, Ärzte und Journalisten. Aber die Demokratie braucht starke Institutionen. Sie handeln und sie tragen die Verantwortung dafür. Institutionen müssen sich öffnen. Aber sie müssen auch stolz ihre Botschaft vertreten." [1]

Ist das ein Plädoyer für den freien Meinungskampf oder eine verklausulierte Aufforderung zur Internet-Zensur? In meinen Augen eher Letzteres. Schließlich lautet die Überschrift des Artikels "Weniger Freiheit, mehr Geheimnis", die Süddeutsche hat es demzufolge genauso interpretiert. Könnte ja, zumal in einer Demokratie, jeder kommen und seine Meinung einfach so ins Netz pusten. Völlig unkontrolliert. Das ist, mit Verlaub, dummes Zeug. Denn erst dadurch, dass die Institutionen im Netz neuerdings hinterfragt werden, ist die Gesellschaft demokratischer geworden. In einer Demokratie findet nämlich die Willensbildung idealerweise von unten nach oben statt. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", sagt das Grundgesetz in Artikel 20 Abs. 2 Satz 1. Und nicht umgekehrt, von den Institutionen.

Unternehmen, Behörden, Politiker, Ärzte und Journalisten vertreten tagtäglich ihre Botschaft - und diffamieren dabei Andersdenkende gerne als "Putin-Versteher" oder "Gutmensch" etc. Das Budget der Pressestelle jeder x-beliebigen Kapitalgesellschaft überschreitet das Einkommen eines Bloggers um ein Vielfaches. Hinter den Journalisten steht die ganze Vertriebsmacht ihrer Zeitung, die Regierung darf jeden Tag in der Tagesschau zum Nulltarif für sich werben. Komisch, dass es die Institutionen laut Keen trotzdem so schwer haben, ihre Botschaften zu kontrollieren. Liegt vielleicht an deren fragwürdigem Wahrheitsgehalt. Man stelle sich vor, die Menschen erdreisten sich, selbst zu denken und ihre eigene Meinung in alle Welt hinauszuposaunen. Wohin das wohl führen wird? Am Ende nehmen die Leute die Demokratie auch noch ernst... Nicht auszudenken!

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[1] Süddeutsche vom 15.01.2015