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18. Februar 2015, von Michael Schöfer
Ein Fest für Verschwörungstheoretiker


"Das Internet ging aus dem im Jahr 1969 entstandenen Arpanet hervor, einem Projekt der Advanced Research Project Agency (ARPA) des US-Verteidigungsministeriums", erläutert Wikipedia. [1] Da horchen Verschwörungstheoretiker auf: Ein Projekt des Verteidigungsministeriums? Und das auch noch im Jahr 1969? Kam nicht just zu diesem Zeitpunkt in den USA ein gewisser Richard Nixon an die Macht? Richtig, genau der, der später wegen der Watergate-Affäre, dem Einbruch ins Hauptquartier der Demokratischen Partei, zurücktreten musste. Außerdem hatte Nixon (Spitzname: Tricky Dick) bekanntlich das Weiße Haus verwanzt und ließ alle Gespräch auf Tonband aufnehmen. Nun, da braucht man bloß noch eins (einbrechen) und eins (abhören) zusammenzuzählen - schon hat man die schönste Verschwörungstheorie kreiert. Und die geht ungefähr wie folgt:

Tricky Dick war höchst unzufrieden, weil er nur bei der Konkurrenz einbrechen und lediglich das Weiße Haus verwanzen konnte. Bob Haldeman und John Ehrlichman, die zum inneren Zirkel des Präsidenten gehörten und eine zentrale Rolle in der Watergate-Affäre spielten, fragten Nixon, ob er je den Science Fiction-Roman "1984" des britischen Schriftstellers George Orwell gelesen hat. Hatte Tricky Dick natürlich nicht, denn er las - wenn überhaupt - lieber Comics (eine unter US-Präsidenten weitverbreitete Unsitte). Orwells Dystopie, klärten ihn Haldeman und Ehrlichman auf, handelt von einem totalitären Staat, der seine Bürger permanent mithilfe von "Teleschirmen" überwacht. Diese Sende- und Empfangsgeräte sind in allen Wohnungen, im öffentlichen Raum und an jedem Arbeitsplatz angebracht. Der Clou: Sie lassen sich nicht deaktivieren. Darüber hinaus sind überall Mikrophone versteckt, die sämtliche Gespräche belauschen. Dem "Ministerium für Liebe" (der Gedankenpolizei) entgeht folglich nicht das Geringste. Privatsphäre? Vertraulichkeit? In "1984" ein Fremdwort!

Richard Nixon war geradezu elektrisiert: "So etwas will ich auch haben", schrie er jauchzend. Das, erwiderten Haldeman und Ehrlichman, sei bedauerlicherweise ein Ding der Unmöglichkeit. "Und warum", fragte Nixon sichtlich erbost. Es gebe da im Nationalarchiv ein uraltes Papier, auf dem stehe "Constitution of the United States of America", bekam er zur Antwort. Die Verfassung sei zwar mehr als 200 Jahre alt, aber leider nach wie vor gültig. Seine engsten Berater faselten irgendetwas von "Freiheit" und "Gerechtigkeit" etc. Für die Regierungsausübung absolut hinderliches Gedöns, doch dummerweise müsse man sich wenigstens ein bisschen daran halten. "Gibt es denn keine andere Lösung", insistierte Tricky Dick. Vielleicht, meinten Haldeman und Ehrlichman. Das Verteidigungsministerium habe kürzlich die Vernetzung der Großrechner von Universitäten und Forschungseinrichtungen vorgeschlagen. Wenn wir den Bürgern den Kauf von zunehmend erschwinglich werdenden Personalcomputern schmackhaft machen könnten, stellen die die Teleschirme bestimmt von ganz alleine in ihren Wohnungen auf, wir müssen sie dann bloß noch anzapfen.

Der Rest ist Geschichte: Amerikanische Unternehmen produzierten die Hardware der Personalcomputer (Prozessoren, Festplatten, Mainboards). Die Software wurde ebenfalls von Amerikanern entwickelt (Betriebssysteme, Programme, Treiber). Und auch bei der Vernetzung sind US-Firmen bis zum heutigen Tag dominierend. Alles heimlich, still und leise von CIA, NSA und FBI gesponsert. Vollkommen uneigennützig, versteht sich. Das Ganze lief unter dem Codenamen "Rumpelstilzchen" (ach, wie gut, dass niemand weiß...). Angelockt durch infantile Computerspiele und der Möglichkeit, zu Hause scheinbar unbeobachtet jede Menge Pornos konsumieren zu können, legten sich die Bürger - wie von der Regierung beabsichtigt - nach und nach Computer zu.

Die Technik machte erstaunliche Fortschritte: Ab 2007, also lange nach dem schändlichen Abgang von Tricky Dick, hatte jeder einen mobilen Teleschirm in der Hosentasche und trug diesen ständig mit sich herum. Irgendjemand taufte das Ding "Smartphone". 2010 kamen dann "Tablets" hinzu. Geheimdienst-Kalauer: "You’ll never walk alone." Funknetzwerke erreichen mittlerweile den abgelegensten Winkel, selbst Hintertupfing ist ans World Wide Web angeschlossen. Obendrein sind unsere Autos, Spielkonsolen, Fernsehgeräte, Stromzähler, Heizungen, Deckenleuchten, Rollläden, Kühlschränke und gelegentlich sogar Kaffeemaschinen mit dem Internet verbunden. Sprachgesteuert, d.h. die Geräte hören jeden Mucks. Die NSA seitdem auch. "Ach, wie gut, dass niemand weiß..." Dank Richard Nixon können die Geheimdienste die Tastaturanschläge ihrer Untertanen (ehedem Bürger) mitlesen sowie Wohnzimmergespräche und Schlafzimmergeräusche mithören. Die eingebauten Gerätekameras tun ein Übriges. Erstklassige Qualität, wenn Sie mich fragen. Bislang ungelöstes Problem: Manche machen es tatsächlich noch im Dunkeln.

Fabriken, Behörden, Kraftwerke, Versorgungseinrichtungen, Gesundheitswesen - alles lässt sich bequem per Knopfdruck manipulieren. Missliebige Politiker physisch eliminieren ist überflüssig geworden. Das ist sozusagen die alte Welt. In der neuen genügt es vollauf, ihnen unbemerkt Kinderpornos unterzujubeln. Technisch gesehen ein Klacks. Alles weitere übernimmt die Boulevardpresse. Schwuppdiwupp sind sie für immer diskreditiert und somit völlig unblutig aus dem Weg geräumt. Die Gaszentrifugen des iranischen Atomprogramms zerstören? Lösung: Stuxnet. Die Firmware sämtlicher Festplatten manipulieren, so dass Festplatteninhalte direkt bei NSA & Co. landen? Lösung: Grayfish. Jedes beliebige Netzwerk infiltrieren? Lösung: PRISM. Vom Internet isolierte Rechner infizieren? Lösung: USB Rubber Ducky. Milliardenbeträge bei Banken ergaunern? Lösung: Carbanak. Der nächste Weltkrieg beginnt bestimmt mit einem gezielten Trojaner-Angriff. Strom und Wasser? Spätestens nach drei Wochen ohne Grundversorgung befindet sich jede moderne Gesellschaft wieder auf dem Niveau des Mittelalters.

Ach, es hätte so schön sein können, aber dann entdeckt dieser Edward Snowden auf einmal sein Gewissen und plaudert wie eine Quasseltante aus dem Top Secret-Nähkästchen. Für die Schlapphüte gewissermaßen die Vertreibung aus dem Geheimdienst-Paradies. Vorbei, dahin, kommt nie wieder. Die Menschen sind empört und haben jegliches Vertrauen verloren. Alles sei von Anfang an (Arpanet) so geplant gewesen, heißt es jetzt vorwurfsvoll. Viel dagegen tun können sie freilich nicht. Nun ist die Paranoia der Normalzustand. Ein Fest für Verschwörungstheoretiker.

Hochverehrte Leserinnen und Leser, ich ahne bereits Ihren Einwand: "Mein lieber Herr Schöfer, übertreiben Sie da nicht ein bisschen? Sie werden doch nicht etwa zu Verschwörungstheorien neigen?" Antwort: Ich und Verschwörungstheorien? Ich bitte Sie, ich doch nicht, nie und nimmer! So ein nahezu lückenloses Überwachungssystem kann sich doch kein Mensch ausdenken, abgesehen vielleicht von Schriftstellern wie George Orwell. Von der konkreten Umsetzung ganz zu schweigen. Nein, nein, keine Angst, bei mir lesen Sie keinerlei Verschwörungstheorien. Nicht bei mir. Obwohl, eigentlich ist es ja ein genialer Gedanke...

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[1] Wikipedia, Internet, Geschichte