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19. März 2015, von Michael Schöfer
Ist das peinlich!


"Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen", heißt es in Ziffer 2 des Pressekodex des Deutschen Presserats unter der Überschrift "Sorgfalt". Und in den "Grundsätzen für die Zusammenarbeit im ARD-Gemeinschaftsprogramm Erstes Deutsches Fernsehen" steht: "Bei der Wiedergabe von Interviews und Statements darf der Sinn der Aussage nicht verändert oder verfälscht werden. Das gilt insbesondere bei Kürzungen und bei der Verwertung von Archivmaterial. Personen, die um Mitwirkung an einer Sendung gebeten werden, dürfen über Art und Zweck ihrer Mitwirkung nicht getäuscht werden. (…) Alle Beiträge haben den Grundsätzen journalistischer Sorgfalt und Fairness und ihrer Gesamtheit der Vielfalt der Meinungen zu entsprechen. Berichterstattung und Informationssendungen haben den anerkannten journalistischen Grundsätzen, auch beim Einsatz virtueller Elemente, zu entsprechen." [1]

Der "Journalist" Günther Jauch hat in der gleichnamigen ARD-Sendung den griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis mit einem Youtube-Video aus dem Jahr 2013 konfrontiert, in dem Varoufakis Deutschland angeblich den Stinkefinger zeigt. Das Video sei gefälscht, erwiderte der griechische Minister postwendend. Es sei echt, konterte Günther Jauch. Jetzt behauptet der Satiriker Jan Böhmermann vom ZDF ("Neo Magazin Royale"), er habe das Video verfälscht und darin nachträglich den Stinkefinger eingebaut. [2] Jauchs Produktionsfirma bleibt jedoch bei der ursprünglichen Behauptung und fordert von Böhmermann Beweise. [3] Wer hat nun recht? Schwer zu entscheiden. Wir wissen es nicht. Aber sollte sich am Ende herausstellen, dass Böhmermann das Video tatsächlich verfälscht hat, muss sich Günther Jauch einen Verstoß gegen journalistische Grundsätze vorwerfen lassen. Mangelnde Sorgfalt, würde das wenig schmeichelhafte Urteil lauten.

Doch es geht nicht allein um mangelnde Sorgfalt, sondern auch um den Wahrheitsgehalt, denn Jauch hat die Äußerung von Varoufakis - Stinkefinger hin oder hier - aus dem Zusammenhang gerissen. Liest man die Übersetzung bei Spiegel-Online, bekommt die Geschichte einen anderen Touch. Varoufakis sagt klar, "dass es für ihn zum Zeitpunkt seines Auftritts 2013 gerade keine Option war, Deutschland den Stinkefinger zu zeigen, so wie es Argentinien sinnbildlich gegenüber dem IWF tat. (…) Die Rede des griechischen Finanzministers ist also in der Tat komplexer als in der TV-Talkshow von Günther Jauch dargestellt." [4] Die entsprechenden Passagen sind zwar nicht leicht zu verstehen, doch das hätte Jauch unbedingt berücksichtigen müssen, etwa indem er den Finanzminister um eine Erläuterung bittet, ohne mit der visuellen Einspielung zugleich eine Anklage zu verbinden. Zitieren hätte vollauf genügt. Außerdem stand Varoufakis 2013 noch nicht in der Regierungsverantwortung. Der Sinn von Informationen "darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden", erlegt sich die ARD selbst auf (und Ausschnitte grob verkürzen fällt wohl ebenfalls unter Bearbeitung). Wie es scheint, ist das lediglich graue Theorie.

Wir müssen uns offenbar damit abfinden, dass die Echtheit von Informationen nur noch schwer zu verifizieren ist. Die plumpen Photoshop-Fälschungen bestätigen da als Ausnahme bloß die Regel. Die Quantenmechanik musste von Anfang an nur mit Wahrscheinlichkeiten zurechtkommen, allerdings ist sie auf die atomare Ebene begrenzt. Doch das Gleiche gilt neuerdings auch für gesellschaftliche Vorgänge. Was wahr oder gelogen ist, lässt sich kaum noch überprüfen. Das können allenfalls Forensiker. Die technischen Möglichkeiten, Beweise zu produzieren oder zu manipulieren, sind fast ins Unendliche gewachsen. Freilich mit weitreichenden Folgen für die menschliche Gesellschaft. Wir sind es zwar von jeher gewöhnt, dass Menschen lügen. Aber Beweise hieb- und stichfest zu fälschen galt lange als ziemlich schwer. Wir nähern uns dem Zeitpunkt, ab dem jegliche Sicherheit dahin ist.

Die Presse leidet stark unter dem Vorwurf, Falschnachrichten zu verbreiten. Politikern wird unterstellt, ständig zu lügen. Ausnahmslos alle - von rechts bis links. Doch was wird aus der Demokratie, wenn es keinerlei Vertrauen mehr gibt? Menschliche Gesellschaften brauchen ein Wertefundament, einen Konsens über bestimmte Gemeinsamkeiten. Aber wenn das Fundament durch unzählige Lügen nach und nach zerfressen wird, erodiert das gesamte Gebäude. Früher oder später wird es einstürzen. Gewissheiten lösen sich auf. Und damit der gesellschaftliche Kitt, der das Ganze bislang zusammengehalten hat. Am Ende regiert der Zynismus. Dann geht es nur noch darum, den größten Vorteil zu erreichen. Mit welchen Mitteln auch immer. Journalisten hätten eigentlich die Aufgabe, dem entgegenzuwirken. Schade, dass sie mehr und mehr dazu neigen, sich am bösen Spiel aktiv zu beteiligen. Meiner Auffassung nach hat nicht nur Günther Jauch falsch gehandelt, sondern auch Jan Böhmermann. Nehmen wir einmal an, das Video ist wirklich manipuliert. In dieser prekären Lage so etwas ins Netz zu stellen, ist absolut unverantwortlich und kein billiges Späßchen mehr. Schließlich geht es um das Schicksal von Menschen, wie etwa das der darbenden griechischen Bevölkerung. In dieser Situation Öl ins Feuer zu gießen (warum eigentlich?), ist ein ganz mieser Stil. Seriosität sieht jedenfalls anders aus. Beide, Jauch und Böhmermann, haben verloren. Viel schlimmer ist indes, dass die Medien als Institution verloren haben - nämlich abermals an Glaubwürdigkeit.

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[1] ARD, PDF-Datei mit 43 kb
[2] Youtube-Video mit 103 MB
[3] tagesschau.de vom 19.03.2015
[4] Spiegel-Online vom 17.03.2015