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21. März 2015, von Michael Schöfer
Die Intoleranz des Homo sapiens ist erstaunlich


Der Mensch ist ein eigentümliches Wesen. Dass er zu den schlimmsten Verbrechen fähig ist, um seine maßlose Gier nach Macht und Reichtum zu befriedigen, ist ja noch einigermaßen verständlich (gleichwohl keinesfalls zu rechtfertigen). Im gnadenlosen Überlebenskampf in der freien Natur, dem wir erst seit einigen Jahrtausenden entronnen sind, mussten unsere Vorfahren notgedrungen an sich reißen, was ihnen unter die Augen kam. Und das in vielen Fällen mit Gewalt. Die Prägung von Millionen Jahren lässt sich eben nicht so einfach abschalten, nur weil wir plötzlich die Zivilisation erfunden haben. In unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung ist das bloß ein Wimpernschlag. Ein Relikt dieser damals lebenswichtigen Raffgier sind unsere Fettpölsterchen, die wir - obgleich den Widrigkeiten der Wildnis längst entwachsen - nach wie vor ansammeln, ganz so als ob morgen eine unfreiwillige Fastenzeit begänne.

Eine der merkwürdigsten Eigenschaft des Homo sapiens ist seine ausgeprägte Intoleranz. Das Sprichwort "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt" gilt nach wie vor. Der Mensch kann es nicht ausstehen, wenn andere nach ihrer eigenen Fasson glücklich werden wollen. Warum eigentlich? Was treibt Hausmeister zu Blockwartgehabe? Können wir andere nicht einfach an ihre Götter glauben lassen? Warum versuchen wir krampfhaft, sie zu bekehren? Motto: Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt. Dies gilt beileibe nicht nur für die großen Ideologien, Religionen oder Terrorgruppen wie IS oder al-Qaida, sondern mehr oder minder für uns alle. Bloß weil wir in einem geordneten Staatswesen leben, das mittlerweile das Abschneiden von Köpfen hart bestraft, sind solche Verbrechen der absolute Ausnahmefall. Aber unter der dünnen Decke des Rechtsstaats schlummert nach wie vor der intolerante Homo sapiens.

Nehmen wir beispielsweise so etwas Profanes wie das Essen. Hätte uns die Natur zu Vegetariern gemacht, wäre die Sache klar. Wir sind aber als Mischköstler geboren worden. Wäre es anders, besäße unsere Spezies ein Vegetariergebiss und einen entsprechenden Verdauungsapparat. Das nennt man evolutionäre Anpassung. So wie die Flosse gewissermaßen ein Abdruck Wassers ist, in dem sie sich bewegt, sind unsere Zähne ein Abdruck der Nahrung, die wir verzehren. Und das mindestens seitdem wir von den Bäumen gestiegen sind und den aufrechten Gang entwickelt haben. Den kannte bereits der Australopithecus, ein Urahn des Homo sapiens, der vor zwei bis vier Millionen Jahren lebte.

Meiner Ansicht nach darf trotzdem jeder Vegetarier oder gar Veganer werden. Wenn jemand freiwillig auf Fleisch bzw. alle Tierprodukte verzichtet - bitteschön, kein Problem. Zum Problem wird das Ganze erst, sobald einem andere die eigene Lebensart überstülpen wollen. Fleischesser fühlen sich zum Beispiel durch Salatesser selten gestört, umgekehrt ist das jedoch gelegentlich zu beobachten. Und diese Intoleranz mündet bisweilen in Militanz. In Mannheim hat ein australischer Gastwirt Pferdefleischgerichte angeboten - und bekam prompt eine Ladung Pferdemist vor die Tür gelegt. "Pferd! Nein Danke!", haben die Pferdefleischgegner an die Eingangstür gesprüht. "In Australien essen wir Pferde, für mich war das kein Tabu", beteuert der Inhaber des Lokals. [1] Übrigens gibt es auch hierzulande seit langem Pferdemetzger, in Wien existierte sogar schon 1897 ein Pferdeschlachthaus. Reittiere zu verspeisen ist in Europa also nicht völlig unbekannt. Offenbar können es einige nicht ausstehen, dass manche Pferdefleisch durchaus zu schätzen wissen. Vermutlich weil sie dabei an die süßen Ponys denken, auf denen entzückte Mädchen so gerne herumreiten. Das sei ihnen unbenommen, doch warum gleich diese Militanz? Ich vermag bei Pferde- und Schweinefleisch keinen ethischen Unterschied zu erkennen. Alles eine Sache der Gewohnheit. Diskutieren sollte man vielmehr über die konkreten Produktionsbedingungen. Unabhängig vom jeweiligen Nutztier, wohlgemerkt.

Andere Länder, andere Sitten: Australier mögen traditionell Pferdefleisch essen, in Asien isst man Hunde, Katzen, Ratten, Insekten, Larven oder Maden. In Kambodscha lebt ein ganzes Dorf davon, frittierte Vogelspinnen anzubieten. Die gelten dort als Delikatesse, ein beliebter Snack für zwischendurch. Mexikaner mögen gekochte Ameisen-Larven, auf der Mittelmeerinsel Sardinien wird Schafskäse mit lebenden Maden hergestellt. Philippines verzehren ausgebrütete Eier samt Embryo-Fleisch, in Japan steht roher Fisch auf der Speisekarte. Zugegeben, teilweise dreht sich einem schon beim Lesen der Magen herum. Doch es gibt auf der Welt gar nicht so viel Pferdemist, wie Militante angesichts dessen ausschütten müssten. Dabei geht es bloß ums Essen. Von anderen, gewichtigeren Dingen ganz zu schweigen. Wenn hier ein Gastwirt frittierte Vogelspinnen anbieten würde, gäbe es meiner Meinung nach überhaupt keinen Grund, sich dagegen aufzulehnen. Absolut okay, sofern die Mahlzeiten den hiesigen Hygienestandards entsprechen. Ich fürchte freilich, er würde nicht genug Kundschaft finden. Von mir aus kann jeder essen, was er will (Kannibalen ausdrücklich ausgenommen).

Die Intoleranz des Homo sapiens ist erstaunlich. Wahrscheinlich liegt die Ursache in unserer sozialen Lebensweise. Als die Menschen größere Gruppen bildeten, hielten Riten die Gesellschaft zusammen und grenzten sie gleichzeitig gegenüber anderen Gruppen ab. Das war identitätsstiftend. Am Ende kämpften jedoch Kulturen und Nationalstaaten gegeneinander, genauso wie Anhänger von feindlichen Fußballclubs (Borussia Dortmund vs. Schalke 04; 1. FC Köln vs. Borussia Mönchengladbach). Und neuerdings eben Pferdefreunde gegen Gastwirte, die Pferdefleisch anbieten. Mein Kommentar: Das eine ist so idiotisch wie das andere. "Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden." (Rosa Luxemburg) Für mich heißt das heute: Mein Nachbar darf ruhig fünfmal am Tag zu Allah beten - solange er von meiner Tochter nicht verlangt, dass sie das Kopftuch trägt. Wenn Menschen für die Beachtung der Menschenrechte eintreten, ist mir vollkommen gleichgültig, ob sie das aus der Bibel, der Thora oder dem Koran herleiten oder sich als Atheisten dem Humanismus verpflichtet fühlen. Wichtig ist lediglich das Ergebnis. Und allen, mit Verlaub, intoleranten Deppen sollte man das Handwerk legen, egal woher sie ihre Anmaßung nehmen.

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[1] Mannheimer Morgen vom 14.03.2015