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01. Mai 2015, von Michael Schöfer
Völkermord


Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nennt den Völkermord an ca. 1,5 Millionen Armeniern (1915/1916) lediglich "traurige Ereignisse". Und er ist böse auf diejenigen, die diesen Völkermord auch als solchen bezeichnen. Das wären Behauptungen, "die auf armenischen Lügen basieren", will uns Erdogan glauben machen. Die Türkei hat wahrlich noch viel aufzuarbeiten. Der historischen Wahrheit ins Gesicht zu blicken ist ebenso schmerzhaft wie notwendig.

Doch wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. So hat auch Deutschland die eigene Vergangenheit nur unzureichend aufgearbeitet. Von den insgesamt 6.500 nach dem Krieg noch lebenden SS-Schergen des Konzentrationslagers Auschwitz wurden hierzulande bloß 49 verurteilt (= 0,75 %), obgleich dort rund 1,1 Millionen Menschen ermordet wurden. Unglaublich. Und den Völkermord an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika (1905/1908) Völkermord zu nennen, fällt vielen deutschen Politikern nach wie vor äußerst schwer. Erdogan lässt grüßen. Das waren vermutlich auch nur "traurige Ereignisse".

Freue sich keiner zu früh, denn fast jede Nation hat ähnliche dunkle Flecken auf der gar nicht so weißen Weste. In den Jahren 1941 bis 1945 fielen der kroatischen Ustascha 300.000 bis 750.000 Menschen zum Opfer - meist Serben, Juden und Roma. In Burundi massakrierten 1972 Tutsi zahlreiche Hutu, 1993 war es andersherum. In Ruanda kam es 1994 zum Genozid an schätzungsweise 800.000 bis 1.000.000 Tutsis. Die Täter: Hutus. 1995 ermordeten Serben in Srebrenica 8.000 Bosniaken. Massenmorde gab es in Russland unter Stalin, in China unter Mao sowie in Kambodscha unter Pol Pot. Und das, was sich derzeit Sunniten und Schiiten im Nahen Osten gegenseitig antun, hat ebenfalls den Charakter eines Völkermords.

Dabei ist der Völkermord mitnichten eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Schon der römische Senator Cato der Ältere forderte die Zerstörung Karthagos, was dann auch prompt 146 v. Chr. am Ende des Dritten Punischen Krieges geschah. Mindestens ein Drittel der Einwohner wurde getötet, die übrigen in die Sklaverei gezwungen. Auf der australischen Insel Tasmanien ermordeten die Engländer zwischen 1824 und 1831 fast die gesamte Urbevölkerung. Die wenigen Überlebenden wurden deportiert, 1869 starb der letzte Tasmanier, 1905 die letzte Tasmanierin. Heute sind alle Tasmanier Nachkommen von Tasmaniern und Europäern, faktisch wurde damit die Urbevölkerung ausgerottet. Die Belgier wüteten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts im Kongo. Bilanz: ungefähr 10 Millionen Tote. Die US-Amerikaner dezimierten bekanntlich in Nordamerika die Indianer, Spanier und Portugiesen taten es ihnen in Mittel- und Südamerika gleich. Es ist müßig, die genaue Zahl der Opfer zu schätzen, sie geht unstrittig in die Millionen. Die Aufzählung der Völkermorde ließe sich noch lange fortsetzen.

In den meisten Nationen existieren enorme Vorbehalte, die eigenen Untaten beim Namen zu nennen, am liebsten würde man sie verschweigen. Der mangelnde Mut zur Wahrheit ist unverständlich. Der türkische Präsident Erdogan etwa ist 1954 geboren, ihn trifft also am Völkermord an den Armeniern keine persönliche Schuld, dennoch will ihm dieser Terminus einfach nicht über die Lippen kommen. Nationalstolz, der auf einem Lügengebäude basiert, ist jedoch falscher Nationalstolz. Außerdem müssen die fehlgeleiteten Patrioten ständig Abwehrschlachten führen, die ohnehin nicht zu gewinnen sind. Am Ende kommt nämlich unweigerlich die Wahrheit ans Licht und ist durch die Zensur nicht mehr zu unterdrücken, die hartnäckigen Leugner stehen dann als Ewiggestrige im politischen und gesellschaftlichen Abseits. Sie mögen sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, in den Augen der anderen werden sie freilich eher belächelt.

Frage: Bricht mir ein Zacken aus der Krone, wenn ich eingestehe, dass Deutsche im 20. Jahrhundert ungeheuerliche Verbrechen begangen haben? Meines Erachtens nicht. Es gibt keine Kollektivschuld, schon gar keine der Nachgeborenen. Aber man kann sich auch nicht aus der Geschichte seines Volkes davonstehlen, zumindest die Erinnerung ist Pflicht. Erstens aus Achtung gegenüber den Opfern, zweitens als Vorbeugung gegenüber allen Wiederholungsversuchen. Der Homo sapiens ist zweifellos mit einer extremen innerartlichen Aggression ausgestattet, er ist ihr allerdings keineswegs hilflos ausgeliefert. Wir können aus Fehlern lernen und sie dadurch künftig vermeiden. Aber dazu muss man die Fehler schonungslos offenlegen. Wer sich weigert läuft Gefahr, sie irgendwann zu wiederholen. Und das wäre dann an Verwerflichkeit und Dummheit kaum zu überbieten.