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22. Mai 2015, von Michael Schöfer
Wenn Steine laufen könnten


Der Krieg in Syrien und im Irak geht unvermindert weiter, jeden Tag sterben Menschen. Doch in den letzten Wochen konnte man den Eindruck gewinnen, das Morden sei abgeflaut. Zumindest verschwand das Thema weitgehend aus den Schlagzeilen der Gazetten, wurde von der Berichterstattung über das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer verdrängt. Nun ist der Konflikt in Nahost wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, der sogenannte "Islamische Staat" hat nämlich soeben die antike Ruinenstadt Palmyra erobert, die zum Weltkulturerbe gehört. Und Kulturgüter, die aus der beschränkten Sichtweise der Dschihadisten nichts mit dem Islam zu tun haben, werden von ihnen demonstrativ zerstört. Götzenbilder eben. So wie etwa die 3.000 Jahre alte Ruinenstadt Nimrud, die der IS vor kurzem mit Vorschlaghämmern und Sprengstoff dem Erdboden gleich gemacht hat. Die Welt ist angesichts dieser Barbarei zu Recht entsetzt.

Wenn Steine laufen könnten, würden wir ihnen gewiss Asyl gewähren. Wenn der IS Archäologen nicht umgehend köpfen ließe, würde man die Kulturdenkmäler am liebsten Stein für Stein abtragen und sie irgendwo in Europa wieder gewissenhaft zusammensetzen. Schließlich steht schon der Pergamonaltar in Berlin auf der Museumsinsel, warum also nicht auch Palmyra auf dem brachliegenden Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof? Der Name "Tempelhof" bekäme so eine ganz neue Bedeutung. Zweifellos ein Touristenmagnet ohnegleichen. Proteste der Bevölkerung wären keine zu erwarten, denn auf alte Steine nimmt man bekanntlich mehr Rücksicht als auf Menschen.

Gegen syrische und irakische Flüchtlinge wehrt man sich, ihnen will die Europäische Union den Weg nach Europa sogar mit einer fragwürdigen Militäraktion verwehren. Das sei nur gegen die Schlepperorganisationen gerichtet, beteuern die Verantwortlichen. Hauptzweck ist aber in Wahrheit die Unterbrechung der Fluchtwege. Legale Einwanderungsmöglichkeiten gibt es freilich so gut wie keine. Menschen wollen essen, trinken und schlafen, sie brauchen obendrein Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Kurzum, sie verursachen Kosten. Kosten, die wir nicht tragen wollen. Antike Steine könnten hingegen Eintrittsgelder erwirtschaften, sie stellen zudem keine Ansprüche und müssen allenfalls vor dem nasskalten Klima geschützt werden. Ruinen wären uns deshalb willkommen, Flüchtlinge sind es nicht.

Wir fühlen uns moralisch überlegen, weil wir uns im Gegensatz zum "Islamischen Staat" um unersetzbare Kulturgüter sorgen. Aber dass alte Steine momentan mehr Aufmerksamkeit erhalten als hilfsbedürftige Menschen, ist ebenfalls ein kulturelles Armutszeugnis. Kultur, so wie ich sie verstehe, erschöpft sich nicht darin, Kulturgüter zu retten und in Museen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Angewandte Kultur ist vielmehr praktizierter Humanismus. Anders ausgedrückt: Das Leben unserer Werte. Was nützt es, die in Stein gemeißelten Grundsätze der europäischen Kultur in den Nationalarchiven aufzubewahren und in den Schulbüchern stolz auf sie hinzuweisen, wenn man sich in der Praxis nur ungern an sie erinnert? Der eigentliche Skandal ist, dass Europa nur einen Bruchteil der Flüchtlinge aufzunehmen bereit ist. Und, dass uns tote Steine im Zweifelsfall mehr wert sind als lebende Menschen.