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26. Mai 2015, von Michael Schöfer
Selbstzerstörerisch und beratungsresistent


Früher, lang, lang ist's her, gab es in den meisten Ländern Europas eine sozialdemokratische und eine konservative Partei, die einander beim Regieren ablösten. Beide Parteien deckten einen Großteil des politischen Spektrums ab. Doch die Sozialdemokraten sind schon lange nicht mehr gemäßigt links. Und die Konservativen sind, nun ja, nicht mehr so richtig konservativ. Der ehedem jeweils klar gegeneinander abgrenzbare Wertekanon hat sich allmählich aufgelöst. Mit der Folge, dass sich Sozialdemokraten und Konservative angenähert haben. Die Menschen? Haben der Wirtschaft zu dienen! Notfalls wird ihnen das mit Hilfe von "Reformen" beigebracht. Diese Politik ist heute bei Sozialdemokraten und Konservativen Konsens. Mittlerweile leben wir deshalb in der "marktkonformen Demokratie", der sich alles unterzuordnen hat. Ergebnis: Die Reichen werden reicher, die Armen hingegen ärmer. Und die Mittelschicht erodiert, hat etwa große Mühe, in den Ballungsräumen die horrenden Mieten zu bezahlen. London, Paris, München - für Durchschnittsverdiener inzwischen nahezu unerschwinglich. Und leider nicht nur dort.

Keine Ursache ohne Wirkung: In etlichen Ländern bilden sich, rechts wie links, neue Parteien und haben starken Zulauf. SYRIZA in Griechenland, die NEOS und FPÖ in Österreich, Podemos und Ciudadanos in Spanien, Front National in Frankreich, Fidesz und Jobbik in Ungarn, AfD in Deutschland, PVV in den Niederlanden etc. Nicht immer kann man darauf vertrauen, dass sie sich - wie derzeit die AfD - selbst im Weg stehen. In Polen hat gerade der nationalkonservative Andrzej Duda die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Viele Wählerinnen und Wähler beklagen die wachsende soziale Ungerechtigkeit und die ungleiche Verteilung des erreichten Wohlstands, konstatieren Wahlbeobachter. So wie fast überall in Europa. Das politische System zerfasert, die Europäische Union droht zu zerfallen. David Cameron lässt demnächst die Briten über die Mitgliedschaft in der EU abstimmen, Marine Le Pens Front National will aus der Eurozone und der Nato austreten. Wohin wird das führen?

Die einstigen Volksparteien sind freilich vollkommen beratungsresistent und sägen sich dadurch selbst den Ast ab, auf dem sie sitzen. Insbesondere die Sozialdemokraten, ursprünglich als Vertretung des "kleinen Mannes" gedacht, haben stark abgebaut. Labour hat vor kurzem die Unterhauswahl in Großbritannien verloren, die spanischen Sozialisten kamen soeben bei den landesweiten Regionalwahlen auf nur noch 25 Prozent, der französische Staatschef François Hollande liegt in Umfragen lediglich auf dem dritten Platz (Marine Le Pen hat durchaus Chancen, den ersten Wahlgang gewinnen), hierzulande ist die SPD seit langem im 25-Prozent-Bereich gefangen, die niederländische Partij van de Arbeid darf momentan auf gerade mal 13 Prozent der Wählerstimmen hoffen, die griechische PASOK landete bei den Parlamentswahlen im Januar mit 4,68 Prozent weit abgeschlagen auf dem siebten Platz. Aber auch die Konservativen verlieren an Zustimmung, wenngleich nicht so dramatisch. Dennoch sind beide anscheinend durch nichts zu beirren, es dominiert die Politik des "Weiter so". Sie plädieren trotz der offenkundig verheerenden Nebenwirkungen ihrer Rezeptur phantasielos für eine weitere Erhöhung der Dosis.

Gelegentlich wird behauptet, Geschichte wiederhole sich nicht. Kann sein, mich erinnert allerdings die heutige Situation in Europa an die Zwischenkriegszeit in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts: Die wachsende Kriegsgefahr, das bedrohliche Erstarken rechter und rechtspopulistischer Parteien, der Niedergang der Sozialdemokratie, die grassierende Fremdenfeindlichkeit, die Verarmung großer Bevölkerungsteile, Wirtschaftskrisen mit globalen Auswirkungen, die schier unglaubliche Ignoranz des Bürgertums, die anachronistische Rückbesinnung auf einen dumpfen Nationalismus und der unbarmherzige Egoismus der Vermögenden. Laut Oxfam wird 2016 ein Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen besitzen, als die restlichen 99 Prozent zusammen. Tendenz: stark steigend (2009 lag der Anteil des reichsten Prozents bei 44 Prozent, 2014 waren es 48 Prozent). [1] Sogar in der angeblich so wohlhabenden Bundesrepublik (Angela Merkel: "Deutschland geht es gut") sind die Unterschiede alarmierend. Die reichsten zehn Prozent der Deutschen verfügen laut einer Studie der OECD über beinahe 60 Prozent des gesamten Nettohaushaltsvermögens. Die ärmsten 60 Prozent kommen bloß auf sechs Prozent. [2] Nur wer annimmt, die Armen würden sich lethargisch in ihr Schicksal fügen, darf weitermachen wie bisher. Die Crux ist: Sozialdemokraten und Konservative scheinen das tatsächlich zu glauben. Nun, auch auf der Titanic hat man Eisbergwarnungen nicht ernstgenommen. Wie das Ganze ausging, ist allseits bekannt.

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[1] Die Zeit-Online vom 19.01.2015
[2] Die Zeit-Online vom 21.05.2015