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12. Juni 2015, von Michael Schöfer
Die Demokratie verkommt zum Zerrbild


Die Nato, so behauptet sie zumindest, sei ein Verteidigungsbündnis und zugleich eine Wertegemeinschaft. Kürzlich hat jedoch eine Umfrage aufgeschreckt, die am Verteidigungswillen ihrer Bürger große Zweifel weckt. "58 Prozent der befragten Deutschen sagen, dass Deutschland im Falle eines 'ernsthaften militärischen Konflikts' zwischen Russland und einem benachbarten Nato-Land dem Verbündeten nicht militärisch zur Hilfe kommen sollte. (…) Nur 38 Prozent der Deutschen würden dem Partner helfen - also Artikel 5 des Nato-Vertrags achten: Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle." Gleichzeitig sinkt die Zustimmung der Deutschen zur Nato rapide, aktuell haben lediglich 55 Prozent ein positives Bild vom Bündnis (2009 waren es noch 73 %). [1]

Das Ergebnis der vom Pew Research Center durchgeführten Umfrage lässt sicherlich aufhorchen. Doch zunächst: Umfragen sind stets mit Vorsicht zu genießen. Es sei hier bloß an die Prognosen erinnert, die vor der britischen Unterhauswahl Anfang Mai 2015 - auf Meinungsumfragen gestützt - ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Tories und Labour vorhersagten. Am Ende stand es dann 11,3 Mio. zu 9,3 Mio. Stimmen für die Konservativen. Wie hoch die Verteidigungsbereitschaft in den Nato-Staaten wäre, wenn es tatsächlich darauf ankäme, muss bis zum hoffentlich nie eintretenden Ernstfall offen bleiben. Darüber, ob Wladimir Putin bereit ist, sie in der Praxis auszutesten, kann man nur spekulieren. Es wäre ein Vabanquespiel ohnegleichen.

Die Nato hat zweifellos ein Image-Problem. Auffallend ist, dass nur in den USA und in Kanada die Bereitschaft, ein von Russland angegriffenes Nato-Mitglied zu verteidigen, deutlich über 50 Prozent beträgt. Die Briten (49 %), die Polen (48 %) und die Spanier (48 %) sind allerdings nicht allzu weit davon entfernt. In Frankreich, Italien und Deutschland spricht sich indes jeweils eine Mehrheit gegen das Einlösen der Bündnisverpflichtung aus. Woran liegt das? Sind angesichts der schier endlosen Konflikte in Afghanistan und in Nahost die Zweifel an der Wirksamkeit militärischer Lösungen gewachsen? Zeigt das immer größere Auseinanderklaffen des Reichtums Wirkung? Motto: "Verteidigt euren Reichtum alleine. Wir brauchen keinen Krieg, sondern Arbeitsplätze und bezahlbare Wohnungen." Wird die angebliche Wertegemeinschaft bloß als hohle Phrase empfunden? Stichworte: Guantanamo, NSA-Abhörskandal, CIA-Geheimgefängnisse, Drohnenkrieg, Anwendung von Folter, Korruption bei Politikern, Finanz- und Wirtschaftskrise, Austeritätspolitik, Entmündigung der Bürger, Überwachungswahn etc. Unter Umständen drückt sich darin lediglich die durchaus berechtigte Skepsis gegenüber der Nato-Osterweiterung aus. Oder ist das Ganze ein Ausfluss unserer ignoranten, entpolitisierten Spaßkultur? Man wüsste gerne mehr, aber leider ist die Umfrage diesbezüglich wenig erhellend. So darf man, je nach eigenem Standpunkt, nur vermuten.

In meinen Augen ist das Umfrageergebnis jedenfalls ein Alarmsignal. Die offenkundig mangelnde Verteidigungsbereitschaft belegt, wie weit die innere Erosion der westlichen Gesellschaften vorangeschritten ist. Unten hat man immer weniger das Gefühl, von denen da oben vertreten zu werden. Bestes Beispiel: Der französische Premierminister Manuel Valls. Der bekennende FC Barcelona-Fan lässt sich zusammen mit seinen Kindern auf Staatskosten für geschätzte 12.000 bis 15.000 Euro in einem Regierungsflugzeug zum Champions-League-Finale nach Berlin fliegen. Es sei schließlich seine Aufgabe, rechtfertigt sich der Sozialist, "Frankreich bei wichtigen Sportereignissen zu vertreten". [2] Das ist natürlich besonders einleuchtend, wenn eine spanische und eine italienische Mannschaft das Endspiel bestreiten. Dazu passt auch wie die Faust aufs Auge, dass der Premierminister zuhause ein rigoroses Sparprogramm in Höhe von 50 Mrd. Euro durchgesetzt hat. Darin u.a. enthalten: Kürzungen bei den Sozialleistungen und den Rentnern. Wundert man sich wirklich noch darüber, dass viele den Eindruck bekommen, von einer abgehobenen, selbstherrlichen und korrumpierten Politiker-Kaste regiert zu werden? Und über die verstärkte Wahlmüdigkeit bzw. den Vormarsch rechtspopulistischer Parteien?

Im Grunde ist die Demokratie eine schöne und sinnvolle Einrichtung, sie wird freilich von den Politikern selbst nicht mehr so richtig ernst genommen. Die Demokratie verkommt allmählich durch ihr eigenes Zutun zum Zerrbild. Allein das, was sich bei TTIP und CETA tut, spottet unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten jeder Beschreibung: Geheimverhandlungen, über die noch nicht einmal die Volksvertreter richtig informiert werden. Und Verträge, die man nach Abschluss der hinter verschlossenen Türen getroffenen Vereinbarungen gar nicht mehr ändern kann. Wer von den Bürgern erwartet, dass sie die Demokratie notfalls mit der Waffe in der Hand verteidigen, muss die Demokratie auch leben. Es könnte deshalb der Fall eintreten, dass wir sie erst dann wieder ausreichend wertschätzen, wenn sie verloren gegangen ist. Besser ist, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen.

Wenn wir das beherzigen, wird es hoffentlich nie jemanden brauchen, der ähnliche Sätze sagen muss, wie einst der britische Kriegspremier Winston Churchill: "Wir werden kämpfen bis zum Ende. Wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen. Wir werden mit wachsender Zuversicht und wachsender Stärke am Himmel kämpfen. Wir werden unsere Insel verteidigen, wie hoch auch immer der Preis sein mag. Wir werden auf den Stränden kämpfen, wir werden an den Landungsabschnitten kämpfen, wir werden auf den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen. Wir werden uns nie ergeben." [3] Das war eine klare Ansage an Nazi-Deutschland. Gegenwärtig signalisieren wir nach außen eher Unentschlossenheit. Das ist beileibe kein Plädoyer für Kriegstreiberei, aber wenn Russland beispielsweise die baltischen Staaten angreifen sollte, hat Moskau den Rubikon überschritten, nicht die Nato. Darauf unangemessen zu reagieren, könnte sich letztlich auch für Deutschland als fatal erweisen. So wie der Austritt Griechenlands aus der Eurozone den Zerfall der Europäischen Union einläuten könnte, könnte die Preisgabe eines Bündnismitglieds die Nato auseinandertreiben.

Apropos Churchill, der sah ja schon kurz nach dem Krieg die Sache wesentlich klarer als andere: "Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen. Das Vorgehen ist einfach. Das einzige, was nötig ist, ist der Entschluss Hunderter von Millionen Männer und Frauen, recht statt unrecht zu tun und dafür Segen statt Fluch als Belohnung zu ernten. (…) Wenn das Gefüge der Vereinigten Staaten von Europa gut und richtig gebaut wird, so wird die materielle Stärke eines einzelnen Staates weniger wichtig sein. Kleine Nationen werden genau soviel zählen wie große, und sie werden sich ihren Rang durch ihren Beitrag für die gemeinsame Sache sichern." [4] Daran können sich viele heute noch eine Scheibe abschneiden, allen voran Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Von David Cameron ganz zu schweigen.

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[1] Spiegel-Online vom 10.06.2015
[2] Spiegel-Online vom 11.06.2015
[3] Wikipedia, We Shall Fight on the Beaches, Rede des britischen Premierministers am 4. Juni 1940 vor dem britischen Unterhaus
[4] Europa-Rede, Universität Zürich, 19.09.1946, Die Zeit-Online vom 05.05.2009