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13. Juni 2015, von Michael Schöfer
Wer ist der wahre Schuldige?


Die Geschichte zu erforschen und die Bedeutung von Ereignissen zu bewerten, ist ziemlich schwierig. Erstens gibt es oft nur spärliche Zeugnisse der Geschehnisse, viele Belege sind in den Wirren der Jahrtausende verschollen oder wurden zerstört. Zweitens wird die Geschichtsschreibung nicht selten bloß aus der Perspektive der Sieger geschildert, die Sichtweise der Besiegten geht dabei gelegentlich völlig unter. Und drittens ist sie auch noch von Mythen überlagert, die wiederum von Politikern bewusst dazu benutzt werden, deren Herrschaft zu legitimieren und Oppositionelle auszugrenzen. Schlichte Gemüter sind ja bekanntlich leicht durch pathetisches Geschwätz zu beeindrucken. Das heilige Vaterland, die stolzen und heldenhaften Krieger, die kostbare Heimaterde, die Flagge, vor der man inbrünstig salutiert, die schwülstige Hymne und ähnlich überhöhter Krimskrams aus der Kiste der nationalistischen Verblödung.

Aus diesem Wust die richtigen Schlüsse zu ziehen, überfordert viele. Das Eis kann nur durch beharrliche Forschung und vorurteilslose Betrachtung der Fakten gebrochen werden. Lange Zeit weigerte sich zum Beispiel die türkische Geschichtsschreibung, den Genozid an den Armeniern (1915/1916) anzuerkennen. Erst in letzter Zeit, und das auch bloß aufgrund internationalem Druck, scheint sich diesbezüglich etwas zu bewegen. Doch nach wie vor riskieren Historiker, Journalisten oder Schriftsteller, die die Dinge unverblümt beim Namen nennen, wegen "Beleidigung des Türkentums" mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt zu geraten.

In der aktuellen Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem Islam wird immer wieder auf die Kreuzzüge verwiesen. Insbesondere den Salafisten dient dieser Hinweis als Rechtfertigung ihrer eigenen Grausamkeiten. Sicherlich darf man die Kreuzzüge keinesfalls vernachlässigen, doch man sollte sie auch nicht überbewerten. Sie dienen, hüben wie drüben, oft nur als Symbol. Der islamistische "Kampf gegen die Kreuzzügler" ist nämlich genauso dummes Gelaber wie George W. Bushs "Kreuzzug gegen die Terroristen".

Die Kreuzzüge (vom Ende des 11. bis zum 13. Jahrhundert) tangierten nur den westlichen Randbereich des islamischen Reiches. Damaskus wurde 1148 von den Kreuzrittern vergeblich belagert. Bagdad, die Hauptstadt des Kalifats, blieb von den Kreuzzügen vollkommen unberührt und wurde 1258 durch die Mongolen zerstört. Letzteres war für die Region zweifellos ein viel gravierender Einschnitt als die Kreuzzüge. Bei den Kreuzzügen ging es auch nur vordergründig um Religion, so wurde etwa beim vierten Kreuzzug (1202-1204) die Kapitale des Byzantinischen Reiches, das christliche Konstantinopel (heute Istanbul), durch die Kreuzritter erobert und geplündert. Folge war eine entscheidende Schwächung von Byzanz, das anschließend der osmanischen Expansion nichts mehr entgegensetzen konnte. 1453 eroberte Mehmed II. die Stadt. Im Fußball nennt man das ein klassisches Eigentor.


Die Kreuzfahrerstaaten am östlichen Rand des Mittelmeeres
[Quelle: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, Urheber: MapMaster]

Außerdem darf man Geschichte nie isoliert betrachten. So erweckten die deutschen Vertriebenenverbände lange Zeit den Eindruck, die Geschichte habe erst 1945 begonnen. Die Vorgeschichte der Vertreibung, der von Deutschland entfachte Weltkrieg, wurde weitgehend ausgeblendet. In der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 05.08.1950 ist lediglich vom "unendlichen Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat", die Rede. War es wirklich "das letzte Jahrzehnt", das unendliches Leid über die Menschheit gebracht hat? Oder waren es nicht vielmehr Hitler und die Nationalsozialisten? Immerhin zeigten sich die Heimatvertriebenen äußerst großzügig: "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung." Ganz so, als seien sie die eigentlichen Opfer des Zweiten Weltkrieges und nicht die von den Deutschen unterworfenen Völker. Die sechs Millionen Juden, die in den Arbeits- und Vernichtungslagern ermordet wurden, nicht zu vergessen.

Auch mit dem Begriff "Vertriebener" wurde geschichtslos Schildluder getrieben. Erika Steinbach beispielsweise, die ehemalige Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, "ist die Tochter des im hessischen Hanau geborenen Elektroingenieurs Wilhelm Karl Hermann, der 1941 als Feldwebel der Luftwaffe in das ab 1939 vom Deutschen Reich besetzte Rumia/Rahmel" kam. "Ihre Mutter, Erika Hermann geborene Grote, stammte aus Bremen, wuchs in Berlin auf und kam 1943 als Luftwaffenhelferin nach Rumia/Rahmel. (…) Geburtsort laut Geburtsurkunde war 'Rahmel Fliegerhorst Nr. 102'. Im Januar 1945 flüchtete ihre Mutter mit der 18 Monate alten Erika und der drei Monate alten zweiten Tochter vor der Roten Armee." [1] Ist die Tochter eines Besatzungssoldaten, die im von Deutschen besetzten Polen zur Welt kommt und deren Eltern aus Hanau bzw. Bremen stammen, wirklich eine Vertriebene? Wohl eher nicht.

Das Gleiche geschieht in Bezug auf die Kreuzzüge. Die Auseinandersetzung des "Abendlandes" mit dem "Morgenland" beginnt ja nicht erst im Jahr 1095 mit dem ersten Kreuzzug, sondern schon viel früher. Die islamische Expansion begann um 630 n. Chr. auf der arabischen Halbinsel und führte bis ins heutige Frankreich. "Al-Andalus", die iberische Halbinsel (Spanien, Portugal), war in der Zeit zwischen 711 und 1492 von Muslimen besetzt. Ihre Vorstöße nach Südfrankreich wurden 732 von Karl Martell und 759 von dessen Sohn Pippin gestoppt. Wer ist nun der eigentliche Aggressor?


Die islamische Expansion
[Quelle: Wikimedia Commons, Urheber: Romain0, derivative work: Furfur, Bild ist public domain]

Die Geschichte der Menschheit ist eine schier unendliche Abfolge von Kriegen und Eroberungen. Fast jeder war mal Täter, und fast jeder war mal Opfer. Wer der wahre Schuldige ist, lässt sich daher gar nicht eindeutig feststellen. In der Auseinandersetzung des Westens mit dem Islam haben, im Guten wie im Schlechten, beide Parteien ihren Anteil. Es geht aber darum, das Hier und Jetzt zu gestalten. Der Rückgriff auf die Geschichte ist dabei eher hinderlich. Es gab und gibt den Missbrauch der Religion, und das wohlgemerkt auf beiden Seiten. Solange man sich davon nicht befreit, wird es keine Lösung des Konflikts geben.

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[1] Wikipedia, Erika Steinbach