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24. Juni 2015, von Michael Schöfer
Reinhold Galls Tweet passt wie die Faust aufs Auge


Der Innenminister von Baden-Württemberg, Reinhold Gall (SPD), hat kürzlich für einen Tweet heftige Kritik und beißenden Spott geerntet. Gall schrieb auf Twitter: "Ich verzichte gerne auf vermeintliche Freiheitsrechte, wenn wir einen Kinderschänder überführen." Kinderschänder, Kinderpornokonsumenten oder Terroristen müssen ja stets dann herhalten, wenn es darum geht, den Überwachungswahn zu rechtfertigen. Dieses "Argument" wurde ja bereits von der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen (Spitzname: Zensursula) verwendet, als sie mit dem Zugangserschwerungsgesetz Internetseiten sperren wollte.

Herr Gall kann meinetwegen als Privatperson auf seine Grundrechte verzichten, das bleibt ihm unbenommen. Motto: "Ich verzichte gerne auf die körperliche Unversehrtheit, wenn wir dadurch Verbrecher zu verwertbaren Aussagen zwingen können." (Ja, ich übertreibe jetzt bewusst, aber zu dieser Konsequenz führt Galls Aussage, wenn man sie zu Ende denkt.) Das eigentliche Problem mit der Vorratsdatenspeicherung ist jedoch, dass der Gesetzgeber verfügt, 81 Millionen Bundesbürger hätten gefälligst kollektiv auf ihre Freiheitsrechte zu verzichten. Das ist etwas völlig anderes. Und bislang sahen das die Gerichte genauso, weshalb der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2014 die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gekippt hat. Die Überwachung aller Bürger ohne konkreten Verdacht verstoße gegen die Grundrechte. Auch das Bundesverfassungsgericht hat das mit den Stimmen von CDU, CSU und SPD beschlossene Gesetz über die Vorratsdatenspeicherung in seinem Urteil vom 2. März 2010 für verfassungswidrig und damit nichtig erklärt. Ob die jetzt in Aussicht gestellte Neufassung einer Prüfung durch das höchste deutsche Gericht standhält, muss man abwarten. Außerdem: Wieso ist der Schutz vor anlassloser Überwachung bloß ein "vermeintliches" Freiheitsrecht? Das würden wir von einem Innenminister, zu dessen Profession es gehört, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, gerne genauer erfahren.

Es ist erschreckend, wie stark mittlerweile in der sogenannten "westlichen Wertegemeinschaft" Rechte zur Disposition gestellt werden. Wir führen völkerrechtswidrige Kriege, aber wenn es andere tun (Wladimir Putin), pochen wir selbstverständlich penibel auf die Einhaltung der Vorschriften. Geheimgefängnisse, außergerichtliche Hinrichtungen, jahrelange Inhaftierung ohne Anklage und ordentliches Gerichtsverfahren, Missachtung der Privatsphäre - für den Westen, dessen Fundament doch angeblich auf den Menschenrechten ruht, alles kein Problem. Jedenfalls solange es opportun erscheint. Das größte Pfund, mit dem wir wuchern können, das, was zum Wesenskern der Demokratie gehört, die strikte Einhaltung der Grundrechte, ist inzwischen so löchrig wie ein Schweizer Käse.

Kein Wunder, wenn sich andere von uns nicht mehr über die Beachtung der Menschenrechte belehren lassen wollen. Saudi-Arabien beispielsweise, das einen Blogger wegen "Beleidigung des Islams" zu tausend Stockschlägen, zehn Jahren Haft und einer Geldstrafe von umgerechnet 194.000 Euro verurteilt. Das "Verbrechen" von Raif Badawi bestand lediglich darin, auf einer Website seine Meinung zu äußern (öffentliche Diskussion über politische, soziale und religiöse Themen). Badawis Anwalt, Waleed Abu al-Khair, wurde übrigens ebenfalls verurteilt (15 Jahre Haft, rund 39.000 Euro Geldstrafe). Grund: "Ungehorsam gegenüber dem Herrscher und der Versuch, seine Legitimität zu untergraben" sowie "Schädigung des Rufs des Staates durch den Austausch mit internationalen Organisationen". Reinhold Galls Tweet passt da wie die Faust aufs Auge. Das, was der baden-württembergische Innenminister offenbar bereitwillig preisgibt, die persönlichen Freiheitsrechte, würde Badawi gerne genießen.