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15. Juli 2015, von Michael Schöfer
Hat Dieter Nuhr wirklich recht?


Der Kabarettist Dieter Nuhr veröffentlichte auf Twitter folgenden Tweet: "Meine Familie hat demokratisch abgestimmt: Der Hauskredit wird nicht zurückgezahlt. Ein Sieg des Volkswillens!" Auf was er damit anspielte, ist klar: Auf das Referendum vom 5. Juli 2015, bei dem sich die Griechen mit 61,31 Prozent gegen weitere Sparmaßnahmen ausgesprochen haben.

"Dieter Nuhr hat recht!", liest man bei der FAZ. Er habe "lediglich auf eine Selbstverständlichkeit hingewiesen: Verträge sind durch Abstimmungen eines einzelnen Vertragspartners nicht kündbar. Geltendes Recht darf nicht gebrochen werden, Rechtsbruch bleibt Rechtsbruch. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn sich der Rechtsbruch durch einen Mehrheitswillen zu legitimieren trachtet. Wenn der Hausvater beschließt, aus welchen Gründen auch immer, seinen Hauskredit nicht zurückzuzahlen, dann ist ihm diese Entscheidung natürlich unbenommen. Er muss freilich, ob er will oder nicht, bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Am Ende schickt ihn womöglich sogar ein Strafrichter in das Gefängnis." [1]

Schade, dass Künstler und Journalisten oft erschreckend uninformiert sind, von daher ist es kaum verwunderlich, wenn sie einen solchen Unsinn schreiben.

Nehmen wir an, Dieter Nuhr kauft sich für 500.000 Euro eine standesgemäße Hütte. Da er das nicht aus der Portokasse bezahlen kann, geht er zu seiner Bank und nimmt einen Hauskredit auf. So weit, so normal. Anfangs, den Fernsehsendern sei Dank, klappt das mit Zins und Tilgung prächtig. Alle sind zufrieden. Die Bank, Nuhr und dessen Familie. Dann kommt etwas Unvorhergesehenes dazwischen: Die Zuschauer haben den Kabarettisten aus unerfindlichen Gründen satt, weshalb die Quoten seiner Sendungen drastisch einbrechen. (Die Griechen wurden 2007 von der Subprime-Krise genauso überrascht wie die Koryphäen der deutschen Ökonomenzunft.) Die Fernsehanstalten beschließen, Dieter Nuhr aus dem Programm zu werfen, er wird arbeitslos. Doch Zins und Tilgung drücken ihn hart, schon lange vor Ende eines jeden Monats muss seine Familie das Essen auf Dosennahrung umstellen. Dann steht tagelang nur noch Ravioli mit Soße oder Soße mit Ravioli auf dem Speiseplan. Nach einer Zinserhöhung reicht es im Hause Nuhr oft bloß noch für trockenes Brot mit Leitungswasser. (In Griechenland sind knapp 60 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen.)

Es kommt, wie es kommen musste: Nuhrs Gattin droht nach Jahren der Entbehrung mit Scheidung. "So kann es einfach nicht mehr weitergehen, ich kann die Kinder ja kaum noch anständig ernähren." Dieter Nuhr kann zwar mit wenig Geld leben, aber nicht ohne Frau und Kinder. Kabarettisten sind normalerweise sehr gefühlsbetont. Sie setzt ihm schließlich die Pistole auf die Brust: "Ich oder die Bank!" Nuhr sieht keinen Ausweg mehr, er kündigt der Bank an, den Hauskredit fortan nicht mehr zu bedienen. "Geltendes Recht darf nicht gebrochen werden, Rechtsbruch bleibt Rechtsbruch, Pacta sunt servanda", schallt es ihm von der anderen Seite des Banktresens entgegen. "Stimmt", da war was", erinnert sich der eifrige Twitterer. "Ach ja, die Griechen..."

Doch zum Glück gibt es in Deutschland die Privatinsolvenz, offiziell "Verbraucherinsolvenzverfahren" genannt. Danach kann der Schuldner nach Abschluss des Insolvenzverfahrens von der Restschuld befreit werden. (Die Griechen nennen so etwas Schuldenschnitt.) Im Rahmen des Insolvenzverfahrens wird das "pfändbare Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös nach Abzug der Verfahrenskosten an die Gläubiger ausgeschüttet. (…) Die Laufzeit des gesamten Verfahrens vom Tag der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zur Restschuldbefreiung beträgt 6 Jahre." (Das griechische Bruttoinlandsprodukt sinkt bereits seit 2008.) Während der Wohlverhaltensphase muss der Schuldner "eine angemessene Erwerbstätigkeit ausüben oder sich um eine solche bemühen, die Hälfte des Wertes von Erbschaften an den Treuhänder herausgeben, jeden Wohnsitz- und Arbeitsplatzwechsel dem Insolvenzgericht und dem Treuhänder mitteilen und keinem Gläubiger einen Sondervorteil verschaffen. Der Treuhänder überwacht die Obliegenheiten des Schuldners nur auf Antrag der Gläubiger. Bei einem Verstoß gegen diese Obliegenheiten kann die Restschuldbefreiung versagt werden." [2]

Die Pfändungsfreigrenzen, also das, was man Familie Nuhr zum Leben lässt, sind zugegebenermaßen nicht üppig, aber sie verhindern, dass Schuldner völlig verarmen. Ein Mindestmaß an Menschenwürde bleibt gewahrt. (In Griechenland gibt es dagegen nicht einmal Sozialhilfe.) Nach dem "Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte" kann die Restschuld neuerdings schon nach drei Jahren erlassen werden. Voraussetzung ist eine Mindestbefriedigungsquote der Gläubigerforderungen in Höhe von 35 Prozent. (Der IWF fordert für Griechenland einen Schuldenschnitt in Höhe von 30 Prozent, also eine Gläubigerbefriedigungsquote in Höhe von 70 Prozent. Merkel und Schäuble lehnen dennoch einen Schuldenschnitt kategorisch ab.)

Es ist gar nicht notwendig, allzu sehr in die Einzelheiten der Privatinsolvenz zu gehen, doch zumindest eines ist klar geworden: Dieter Nuhrs Familie könnte im Bedarfsfall tatsächlich darüber abstimmen, ob sie den Hauskredit weiterhin zurückzahlt oder nicht. (An der Bedürftigkeit der Griechen bestehen ja keine Zweifel.) Das wäre auch vollkommen in Ordnung, denn wer will schon arbeitslose Kabarettisten und deren Familie hungern lassen? Niemand! Das nennt man übrigens Sozialstaat (etwas, das wenigstens offiziell immer noch zu den Grundwerten der EU gehört). Die Frage, ob deutsche Kabarettisten ihrerseits griechische Familien hungern lassen würden, steht allerdings, wie wir angesichts des Tweets von Dieter Nuhr sehen, auf einem anderen Blatt. (Griechische Weisheit: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.) Beim Geld hört bekanntlich jeder Spaß auf - sogar für Kabarettisten.

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[1] FAZ.Net vom 12.07.2015
[2] Wikipedia, Verbraucherinsolvenzverfahren