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05. August 2015, von Michael Schöfer
Der Sport zerstört sich selbst


Die Tour de France wird ja schon lange abwertend als "rollende Apotheke" bezeichnet, Jahre ohne Dopingfälle sind hier die rühmliche Ausnahme anstatt die Regel. 2015 haben in der ARD im Durchschnitt 1,17 Mio. Zuschauer die dreiwöchige Rundfahrt verfolgt [1], im Jahr 2003 waren es noch 3,1 Mio. [2]. Trotz etlicher Etappensiege durch deutsche Radprofis hielt sich die Begeisterung des Publikums in Grenzen.

Dem Fachportal "swimvortex.com" zufolge sollen bei der Schwimm-WM in Kasan/Russland (24.07. - 09.08.2015) 16 Athleten mitschwimmen, die bereits positiv auf Doping getestet wurden. [3] Julija Jefimowa, im Oktober 2013 positiv auf das verbotene Steroid Dehydroepiandrosteron getestet, wurde jedoch bloß für 16 Monate gesperrt (anstatt wie üblich für zwei Jahre). Prompt gewann sie bei ihrer Heim-WM die Goldmedaille über 100 m Brust.

Auch in der Leichtathletik ist Doping offenbar weitverbreitet. Nach einer Auswertung von insgesamt 12.000 Bluttests von rund 5.000 Athleten sollen bei 800 eindeutig dopingverdächtige Werte aufgefallen sein. Betroffen ist "jeder dritte Medaillengewinner, der von 2001 bis 2012 bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften in den Ausdauer-Disziplinen von 800 Metern bis zum Marathon auf dem Siegerpodest gestanden hat" (darunter 55 Goldmedaillen). Der Leichtathletik-Weltverband IAAF habe "diese Werte in den meisten Fällen geheim gehalten und nicht weiter verfolgt. (…) Bei rund jedem siebten Athleten in den Listen finden sich Werte, die in den allermeisten Fällen nicht natürlich zu erklären sind. In manchen Nationen ist fast die Hälfte der Athleten auffällig." [4] Der IAAF bestreitet die Vorwürfe, sie seien nicht beweisbar. Man wird sehen...

Auch die "Formel 1" klagt über Zuschauerschwund. Beim Großen Preis von Ungarn auf dem Hungaroring (26.07.2015) kamen am Renntag nur 73.000 Zuschauer an die Strecke, die damit bloß zu 60 Prozent ausgelastet war. [5] In Deutschland sahen sich im Durchschnitt 4,64 Mio. Formel-1-Fans das Rennen im Free-TV an, 2014 waren es noch 4,98 Mio. und 2013 noch 5,57 Mio. Im Pay-TV sahen knapp 100.000 weniger zu als im Jahr zuvor. [6] Auch beim Großen Preis von Österreich (21.06.2015) gab es einen drastischen Zuschauerschwund - ein Minus von 48 Prozent gegenüber dem Vorjahr. [7] Grund: Fans beschweren sich über hohe Ticket-Preise und langweilige Rennen. Beim diesjährigen Heim-Grand-Prix von WM-Spitzenreiter Lewis Hamilton kamen freilich so viele Zuschauer wie noch nie. Das Bild ist also (noch) uneinheitlich.

Boston hat gerade seine Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2024 zurückgezogen. "Wir waren nicht dazu in der Lage, die Mehrheit der Bevölkerung für die Bewerbung zu begeistern", sagte Scott Blackmun, Geschäftsführer des nationalen Olympische Komitees der USA (USOC). [8] In München, Garmisch-Partenkirchen sowie in den Landkreisen Berchtesgadener Land und Traunstein entschied sich in einem Bürgerentscheid sogar eine Mehrheit gegen die Bewerbung für die Winterolympiade 2022. [9] Den Gegnern war die ihrer Meinung nach zu große Profitgier und die Intransparenz beim IOC ein Dorn im Auge, zudem seien die Spiele zu teuer und würden die Natur zerstören. Auch Oslo wollte 2022 keine Olympischen Winterspiele ausrichten und zog ebenfalls zurück. Grund: Die Zustimmung in der norwegischen Bevölkerung sank immer mehr. Regierungschefin Erna Solberg sagte im norwegischen Fernsehen: "Die Unterstützung im Volk war einfach zu gering." [10] Man muss kein Anhänger von Avery Brundage sein, um die Olympiade inzwischen als überkommerzialisiert zu empfinden. Außerdem war die Vergabe der Spiele an Peking (Sommer 2008, Winter 2022) und Sotschi (Winter 2014) nicht gerade prestigefördernd.

Der Fußballweltverband FIFA hat mit massiven Korruptionsvorwürfen zu kämpfen, die Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 nach Russland und 2022 nach Katar sei durch Bestechung beeinflusst worden, heißt es. Auch für Medien-, Vermarktungs- und Sponsoringrechte ist angeblich Geld geflossen. Die Behörden ermitteln, und es gab bereits mehrere Verhaftungen von Funktionären.

Der Sport zerstört sich auf diese Weise selbst. Wenn das Ganze nur auf Einzelfälle zu reduzieren wäre, bestünde überhaupt keine Gefahr. Doch die Bürger bekommen langsam aber sicher den Eindruck, dass im Sport entgegen den hehren Bekundungen (olympischer Geist, Fair-Play, Anti-Rassismus-Kampagne etc.) systematisch gelogen und betrogen wird. Gewiss, es gibt immer noch viele saubere Sportler und wohl auch etliche honorige Funktionäre, aber sie prägen schon lange nicht mehr das Bild, das man sich mittlerweile vom Sport macht.

Spitzensport ist ohne Profis undenkbar, und deren Geld kommt nur über einen großen Zuschauerzuspruch herein (Eintrittsgelder, Werbung im Fernsehen oder den Printmedien, Verkauf von Merchandisingprodukten etc.). Bleiben die Zuschauer langanhaltend weg, weil sie angewidert sind und sich abgezockt fühlen, leiden am Ende alle - Athleten genauso wie Firmen.

Sport ist nach wie vor eine der schönsten Nebensachen der Welt, doch er ist bereits durch die pathologische Gier nach Geld nahezu komplett zerfressen. Es wird Zeit, sich endlich wieder auf seine Ursprünge zu besinnen. Das geht natürlich nicht ohne strikte Kontrolle. Ich fürchte aber, dazu muss man viele Sportverbände erst einmal vom Kopf auf die Füße stellen. Wenn sich nichts ändert, findet zwar vielleicht dereinst alle vier Jahre eine Olympiade statt, aber möglicherweise schaut sie sich kaum noch jemand an. Die Tour de France leidet unter einem nachhaltigen Imageschaden, das kann anderen Sportarten genauso passieren. Unmöglich? Abwarten!

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[1] RP-Online vom 27.07.2015
[2] Süddeutsche vom 23.07.2015
[3] Handelsblatt vom 04.08.2015
[4] tagesschau.de vom 01.08.2015 und tagesschau.de vom 04.08.2015
[5] Formel1.de vom 27.07.2015
[6] Motorsport-total.com vom 27.07.2015
[7] Formel1.de vom 22.06.2016
[8] Spiegel-Online vom 28.07.2015
[9] Spiegel-Online vom 10.11.2013
[10] Der Tagesspiegel vom 02.10.2014