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26. August 2015, von Michael Schöfer
In Ungnade gefallen


Geschlossene Denksysteme haben oft fatale Auswirkungen: Die Zahl der Freunde nimmt ständig ab, während die Zahl der Feinde fortwährend zunimmt. Da wird die eigene Überzeugung schnell zur festgefügten Gewissheit, die durch nichts mehr zu erschüttern ist. Im Gegenteil, jeder Gegenbeweis scheint sie nur noch mehr zu bestätigen, schließlich werden diese durch die zahlreichen Feinde manipuliert.

Stephan Hebel, früher laut NachDenkSeiten ein "hoch geschätzter" Redakteur der Frankfurter Rundschau, und Gustav Horn, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, sind offensichtlich in Ungnade gefallen. Hebel hatte sich im vergangenen Jahr dafür eingesetzt, das Wort "Lügenpresse" als "Unwort des Jahres" zu küren, was ihm letztlich auch gelang. Nach Ansicht von Albrecht Müller, einem der Gründer der NachDenkSeiten, fügt sich Hebel damit "in die angelaufene Kampagne gegen die Kritiker der Medien ein". [1]

Als nun Stephan Hebel und Gustav Horn Sahra Wagenknechts Überlegungen, den Euro aufzugeben, in der FR als "Reaktionär, nicht links" [2] bzw. bei Twitter mit "Für mich ist das: Sozialnationalismus" kritisierten, war das der berühmt-berüchtigte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: "Der Kommentator der Frankfurter Rundschau, Stephan Hebel, und der Chef des IMK, Gustav Horn greifen trotz der Notwendigkeit und Möglichkeit einer sachlichen Diskussion auf die Methode der Übertreibung zum Zwecke der Diffamierung zurück. Ihre Vorbilder sind allgemein bekannt: die Nazis, insbesondere Dr. Goebbels, arbeiteten zur Diffamierung und Verfolgung von Juden immer mit der Methode der Übertreibung. Dr. Geißler (CDU) war ein ebensolcher Meister der Diffamierung durch Übertreibung. (…) Die stigmatisierende Etikettenverteilung von Hebel und Horn ist Teil einer 2014 voll angelaufenen Kampagne. Wenn man kritische, fortschrittliche Menschen und Politiker richtig stigmatisieren will, dann muss man sie rechten Gedankenguts zeihen." [3]

Man darf zu Recht darüber streiten, ob Sahra Wagenknechts Einwurf tatsächlich "reaktionär" ist, wenn sie darin den Euro zur Disposition stellt. "Es zeigt sich einfach, dass der Euro nicht funktioniert, sondern immer größere wirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugt, und am dramatischsten zeigt sich das eben in Griechenland. Darum beginnt in der Linken zu Recht eine Debatte darüber, welchen Spielraum eine Politik jenseits des neoliberalen Mainstreams im Rahmen des Euro überhaupt hat oder ob wir dieses Währungssystem nicht generell infrage stellen müssen. (…) Die Währungsunion verengt die Spielräume der einzelnen Regierungen bis zur Handlungsunfähigkeit, das ist eine europaweite Abschaffung der Demokratie durch die Hintertür." [4]

Ganz unrecht hat sie ja nicht. Man darf Wagenknecht auch so verstehen: Wenn es innerhalb der Europäischen Gemeinschaft nicht zu der gewünschten Demokratisierung kommt (europäisches Finanzministerium, System des Finanzausgleichs etc.), muss man die Renationalisierung erörtern, weil nationale Währungen durch Auf- bzw. Abwertung wenigstens wieder ökonomische Spielräume eröffnen. So würde in einem solchen Szenario die D-Mark angesichts der Wirtschaftskraft Deutschlands drastisch gegenüber den anderen Währungen aufwerten, was dann die wirtschaftlichen Ungleichgewichte genauer abbildet und möglicherweise einebnet. Die Konsequenzen einer Renationalisierung für die EU-Mitgliedstaaten sind allerdings offen. Immerhin ist die Diskussion darüber nicht vollkommen abwegig. Die Empfehlung Hebels, mehr anstatt weniger Europa (ein demokratischeres, versteht sich), halte ich gleichwohl für erstrebenswerter und zudem auch für schlüssiger.

Doch bei Albrecht Müller ist in zunehmendem Maße alles, was nicht in sein scheinbar festgefügtes Weltbild passt, Meinungsmache. Die Medien seien ohnehin "gleichgeschaltet", beklagt er seit langem. [5] Gleichschaltung ist übrigens ein Begriff der Nationalsozialisten. Kurios: Trotz angeblicher Gleichschaltung finden sich bei den NachDenkSeiten jede Menge Links zu kritischen Beiträgen der "nahezu" gleichgeschalteten Mainstream-Medien. Albrecht Müller: "Die Gleichschaltung ist nie total." Der Mitbegründer der NachDenkSeiten durfte überdies in der Frankfurter Rundschau in einem Gastbeitrag seine ablehnende Haltung zu Joachim Gauck veröffentlichen. [6] Stimmt, die Gleichschaltung ist tatsächlich nie total.

"Endlich durchbricht ein Journalist, der nicht unter der Berliner Käseglocke arbeitet und nicht in das dortige selbstbezügliche Zuruf-Netzwerk seiner Berufskollegen eingebunden ist, den schönen Schein, den die Kanzlerin ausstrahlt." Gemeint ist der "hoch geschätzte" Stephan Hebel. [7] Ob er je einen Gedanken daran verschwendet hat, sich einmal in der Tradition von Goebbels und Geißler wiederzufinden? Vermutlich nicht. Und was ihn wohl dazu verleitet hat, zwei Jahre danach Teil einer "Kampagne gegen die Kritiker der Medien" zu sein? Wir harren der Aufklärung. Das, was Müller seinen Kontrahenten vorwirft, Menschen als "rechts" zu diffamieren, macht er schließlich selbst. Und er übertreibt damit maßlos. Aber wie eingangs erwähnt: Geschlossene Denksysteme haben oft fatale Auswirkungen: Die Zahl der Freunde nimmt ständig ab, während die Zahl der Feinde fortwährend zunimmt. Zu welcher Kategorie man neuerdings Stephan Hebel zählen darf, ist evident.

Doch es kommt noch kurioser. Jens Wernicke, ein Mitarbeiter der NachDenkSeiten, interviewt Albrecht Müller. Das ist ungefähr so, wie wenn Cerstin Gammelin, eine Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, ihren Chefredakteur Kurt Kister interviewt. Ungewöhnlich, weil das Ganze ein selbstreferentielles (auf sich selbst bezogenes) System ist. Dabei ist nämlich die Versuchung riesengroß, sich durch ein entsprechendes Frage- und Antwortspiel gegenseitig recht zu geben. Mit anderen Worten: Bloß die eigene, vorgefasste Meinung zu bestätigen. Normalerweise interviewt man deshalb Fremde, die Sachverhalte aus einer anderen Perspektive betrachten, aber nicht Kollegen aus dem eigenen Haus.

Wie dem auch sei, jedenfalls geht es in dem Interview um die "Gedanken- bzw. Gesinnungspolizei". Müller mokiert sich darin über Mails von Kritikern. Wernicke fragt: "Und was ist Ihre Antwort hierauf – auf all diese Verbote, Tabus und die damit geschürte 'Kontaktangst' und den kritischen Stimmen im Land?" Antwort: "Nun, ich habe mich entschlossen, mir nicht von anderen vorschreiben zu lassen, mit wem ich Kontakt haben darf, wen ich achte und zitiere und mit wem ich mit Respekt umgehe." [8] Und hier macht er erneut das, was er Hebel und Horn vorwirft: er übertreibt maßlos. Kritiker, die etwas an Müller oder seinen Kontakten auszusetzen haben, versieht er kurzerhand mit dem Etikett "Gedankenpolizei". Der Terminus geht auf George Orwells Roman "1984" zurück. Der britische Autor beschreibt einen totalitären Staat, "in dem eine 'Gedankenpolizei' durch allgegenwärtige Beeinflussung und Überwachung und psychologische Techniken die Gedanken der Bürger kontrolliert und gegebenenfalls bestraft". [9]

Das war offenbar sogar dem Neuen Deutschland zu viel. Das Parteiblatt der Linken hat das Interview "nach einer internen Intervention", wie Albrecht Müller schreibt, wieder von der Website entfernt. Über nähere Beweggründe ist nichts bekannt, vielleicht sah ja die Zeitung durch Müllers Schimpftirade journalistische Standards verletzt. Damit hat das Blatt vermutlich große Chancen, sich demnächst ebenfalls in die Phalanx der "gleichgeschalteten" Medien einzureihen. (Achtung: Ironie!) Das Interview steht nun auf der Website von "RT Deutsch". [10] Und die ist bekanntlich überhaupt nicht gleichgeschaltet. (Achtung: Ebenfalls Ironie!) Wie gesagt: Geschlossene Denksysteme haben oft fatale Auswirkungen: Die Zahl der Freunde nimmt ständig ab, während die Zahl der Feinde fortwährend zunimmt.

Aber im Grunde ist es traurig mitanzusehen, wie sich eine ehedem wichtige Website zunehmend selbst ins Abseits manövriert.

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[1] NachDenkSeiten vom 14.01.2015, Dass man auf die Wahl des Wortes "Lügenpresse" zum Unwort des Jahres stolz sein kann, begreife ich nicht
[2] Frankfurter Rundschau vom 22.08.2015
[3] NachDenkSeiten vom 24.08.2015, Übertreibung ist eine beliebte Methode (5) der Meinungsmanipulation – hier dargestellt am Umgang der Hiwi’s Hebel (FR) und Horn (IMK) mit Sahra Wagenknecht
[4] taz vom 21.08.2015
[5] NachDenkSeiten vom 26.06.2010, Sie sind alle gleichgeschaltet – ZDF, ARD, Spiegel Online usw. oder NachDenkSeiten vom 15.05.2014, Darf man von Gleichschaltung der Medien sprechen? Und davon, dass die Demokratie höchst gefährdet ist?
[6] Frankfurter Rundschau vom 14.03.2012, Gauck ist der falsche Präsident
[7] NachDenkSeiten vom 08.03.2013, Angela Merkel – "Mutter Blamage" – Eine Rezension
[8] NachDenkSeiten vom 24.08.2015, Ein Interview zur "Gedankenpolizei" – vom Neuen Deutschland wieder aus dem Netz genommen
[9] Wikipedia, Gedankenverbrechen
[10] RT Deutsch, Albrecht Müller im Interview über linke Gedankenpolizei: "Die Denunzianten sind Feiglinge"


Nachtrag (27.08.2015):
Es wird immer skurriler: Da mutiert die ganz normale Presseanfrage einer Journalistin zum "Geraune des Denunziantentums", sie selbst wird als "Kleininquisitorin" verunglimpft. [11] Die Presseanfrage bleibt im Übrigen nach Darstellung der Journalistin unbeantwortet, wird aber ungefragt auf den NachDenkSeiten veröffentlicht. Nun, über Stilfragen lässt sich bekanntlich streiten. Albrecht Müller sieht das Ganze natürlich als Bestätigung seiner Warnung vor den "Umtrieben einer Gedanken- und Gesinnungspolizei".
Es gibt Menschen, die an Herrn Müller Kritik üben. Na und? Wer austeilt, und darin hält sich der NachDenkSeiten-Mitbegründer wahrlich nicht zurück, muss auch einstecken können. Aber ist, abgesehen von kritischen Anmerkungen, je irgendeine Äußerung von ihm tatsächlich verboten worden? Ganz konkret im Wortsinne? Ich fürchte, da wird bloße Kritik, sei sie nun berechtigt oder nicht, zu einem Popanz aufgebaut - und heraus kommt die "Gedanken- und Gesinnungspolizei". Manche bilden sich die dunklen Mächte, die da angeblich walten sollen, bisweilen nur ein. Oder es ist eine Strategie, sich mit unbequemer Kritik nicht auseinandersetzen zu müssen? Sie wird schließlich von "Denunzianten" und "Kleininquisitoren" vorgetragen, da erübrigt sich naturgemäß jede Diskussion. Außerdem nimmt man, taktisch geschickt, die Opferrolle ein ("Und was ist Ihre Antwort hierauf – auf all diese Verbote, Tabus und die damit geschürte Kontaktangst?").
Ach, nebenbei bemerkt, die an den Pranger gestellte "Kleininquisitorin" hat erstens den Vortrag von Professor Mausfeld ("Warum schweigen die Lämmer?") gelobt und durfte zweitens sogar schon einmal einen ihrer Artikel auf den NDS veröffentlichen. [12] Die Liste der in Ungnade Gefallenen wird anscheinend immer länger.

[11] NachDenkSeiten vom 26.08.2015, Eine interessante Mail von Prof. Mausfeld zu den Beiträgen über Gedanken- und Gesinnungspolizei
[12] NachDenkSeiten vom 07.11.2012, ARD Satire-Gipfel vom 05.11.2012: Neues vom toten Pferd


Nachtrag (25.10.2015):
Kai Ruhsert, der laut Albrecht Müller "in den Anfangsjahren der NachDenkSeiten eine wichtige Stütze der Zusammenstellung der Hinweise des Tages" war, hat sich offenbar aus der aktiven Mitarbeit an den NachDenkSeiten zurückgezogen. Von außen kann man nur vermuten, dass es hinter den Kulissen kräftig brodelt, darauf lassen jedenfalls die Äußerungen Albrecht Müllers über Kai Ruhsert schließen. [13]
Nun hat sich aber auch Wolfgang Lieb, der Mitherausgeber der NachDenkSeiten, verabschiedet. In einer Erklärung schreibt er unter anderem: "Es reicht eben m.E. nicht aus, die Welt moralisch in 'Freund' und 'Feind' aufzuteilen und die Ursache nahezu allen Übels auf der Welt 'einflussreichen Kräften' (oft in den USA) oder undurchsichtigen 'finanzkräftigen Gruppen' oder pauschal 'den Eliten' zuzuschreiben. Die Reduktion gesellschaftlicher Konflikte auf einen Antagonismus zwischen 'Volk' und 'Eliten' halte ich für missbrauchsanfällig. (…) Gesellschafts- und Ideologiekritik hat für mich das Ziel, schlechte bzw. ungerechte Zustände zum Besseren zu verändern. Diese Kritik darf aber nicht zu einem Generalverdacht gegen alles und jede/n verkommen. (…) In meinem Verständnis sollen die NachDenkSeiten – wie uns der verstorbene Frank Schirrmacher lobte – 'im besten Sinne alteuropäische Diskurse' anstoßen, nicht aber den jeweiligen Diskurspartner mit auf die Person bezogener Aggressivität abstoßen, ihn nicht mit moralisch aufgeladenen Begriffen, wie etwa 'unterste Schublade', 'von Agitation und Dummheit geprägt' herabsetzen. (…) Eine lebendige Demokratie braucht den Streit in der Sache, aber nach meinem Verständnis einer demokratischen Streitkultur darf man dazu Menschen mit anderer Meinung nicht persönlich herabsetzend angreifen und ihnen vorwerfen, dass sie entweder 'primitiv' oder aber 'manipuliert', 'instrumen­talisiert', 'gefällig' oder ganz generell an 'Kampagnen beteiligt' seien – also geplant und koordiniert mit wem auch immer zusammenwirkten – oder, dass sie 'im Auftrag' agierten." Lieb könne "Inhalt, Methode und Form der Kritik" der NachDenkSeiten, die seinem "Verständnis des Politischen" und seinem "Stil des öffentlichen Diskurses" grundlegend widerspreche, nicht mehr länger mittragen. [14]
Er bestätigt damit im Grunde bloß das, was Kritiker von Albrecht Müller seit längerem beklagen. Ein wichtiges Projekt der Gegenöffentlichkeit, von dem auch ich viel gelernt habe, droht durch diese - wie ich es empfinde - Radikalisierung zu scheitern. Jammerschade eigentlich.

[13] NachDenkSeiten vom 12.10.2015, Kritik und Gegenkritik – Kai Ruhsert antwortet auf die Replik von Werner Rügemer auf seine Kritik am Vortrag "Europa im Visier der Supermacht USA"
[14] NachDenkSeiten vom 23.10.2015, Wolfgang Lieb in eigener Sache: Ich habe mich schweren Herzens entschlossen, nicht mehr für die NachDenkSeiten zu arbeiten