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09. September 2015, von Michael Schöfer
Wir schaffen das! Oder auch nicht.


Was haben die Menschen hierzulande nicht alles aushalten müssen, nehmen wir bloß mal die Kriege seit der Reichsgründung im Jahr 1871. Mit dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/1871) wurden wir überhaupt erst eine Nation, vorher war das nur ein Flickenteppich aus großen und kleinen Monarchien (Herzogtümern, Fürstentümern, Königreichen). 1914 folgte der Erste Weltkrieg, 1939 der Zweite Weltkrieg - die jeweils mit einer Niederlage endeten. Dazwischen: Revolution, Hyperinflation, bürgerkriegsähnliche Zustände, Wirtschaftskrise und Nazi-Diktatur.

Seit 1945 ist Ruhe im Karton. Und es ging uns auch wirtschaftlich immer besser. Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands ist von mickrigen 49,69 Mrd. Euro im Jahr 1950 (früheres Bundesgebiet, ohne Berlin-West und Saarland) auf 2.915,65 Mrd. Euro im Jahr 2014 (Gesamtdeutschland) gestiegen. Preisbereinigt, also nach Abzug der Inflationsrate, hat es sich fast versiebenfacht. Das Gros der heute Lebenden hat 70 Jahre Frieden und stetig steigenden Wohlstand miterlebt, das konnte keine Generation vor uns von sich behaupten. Zwar soll man die Auswirkungen des auf Europa zukommenden Flüchtlingsstroms keinesfalls verharmlosen, aber im Vergleich zu dem, was frühere Generationen mitgemacht haben, ist er nur ein laues Lüftchen. Nur Mut, wir schaffen das! Einschränkung: Wenn wir es wirklich wollen.

Aber was wäre denn auch die Alternative? Insbesondere in Nord- und Südamerika gibt es viele "Gated Communities", das sind eingezäunte und bewachte Wohnkomplexe, in die kein Unbefugter hineinkommen soll. So könnte natürlich Europas Zukunft aussehen: "Gated States" à la israelische Sperranlage zum Westjordanland mit einer bis zu acht Meter hohen Mauer aus Stahlbeton. Und im Mittelmeer hindern wir Flüchtlingsboote notfalls mit Waffengewalt an der Weiterfahrt und zwingen sie zur Umkehr. Keiner wird mehr vor dem Ertrinken gerettet, man lässt vielmehr in Seenot geratene Asylsuchende heimlich, still und leise absaufen. Anders ist der Zustrom nämlich gar nicht zu stoppen, das muss jedem klar sein.

Es sei denn, wir nehmen jetzt einen Teil auf und versuchen gleichzeitig, in den Herkunftsländern die Fluchtursachen zu beseitigen. In einer Welt, in der das Chaos regiert, wird Europa keine Insel der Seligen bleiben. Höchstens, wenn wir - siehe oben - unsere Werte preisgeben und inhuman handeln. Aber dann kann man es m.E. ohnehin vergessen.