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05. November 2015, von Michael Schöfer
Beruhigungspillen


Am 31. Oktober 2015 ist "2015 TB145", ein Asteroid mit einem Durchmesser von rund 600 m, in einem Abstand von 480.000 km an der Erde vorbeigeflogen. Mit ausreichender Sicherheit für uns Erdbewohner, aber in kosmischen Maßstäben eben doch äußerst knapp. Passend zum Datum bezeichnete man den Brocken auch als "Halloween-Asteroid". Radarbilder der Nasa erweckten überdies den Eindruck, als habe er - ebenfalls passend zu Halloween - die Form eines Totenschädels. BILD titelte gewohnt spektakulär: "Gigantischer Totenkopf im All." Typisch Mensch, er sieht nur das, was er sehen will. [1] Wie Oberflächenstrukturen täuschen können, haben wir bereits beim sogenannten "Mars-Gesicht" gesehen. Auf grobkörnigen Aufnahmen erweckte die Erhebung auf dem roten Planet den Eindruck, als sei dort ein menschliches Gesicht zu sehen. Die Boulevard-Presse nährte bereits Spekulationen über die Existenz von Marsmenschen. Gar eine Botschaft von Aliens? Weit gefehlt, denn hochauflösende Aufnahmen zeigten, dass es sich lediglich um eine Felsformation handelt, die genau betrachtet keinerlei Ähnlichkeit mit einem Gesicht aufweist. Die gleichen Effekte, grobkörnige Auflösung und Schattenbildung zum Zeitpunkt der Aufnahme, wirkten auch bei "2015 TB145". Der "gigantische Totenkopf" fand nur in unseren eigenen Köpfen statt.

Dennoch war, Totenkopf hin oder her, der Asteroid nicht ungefährlich. Bahnbeobachtungen machten zwar früh klar, dass keine Kollisionsgefahr mit der Erde bestand, aber "2015 TB145" wurde ziemlich spät, nämlich erst am 10. Oktober 2015 entdeckt - 21 Tage vor seinem Rendezvous mit unserem Heimatplanet. Je nach dem Material, aus dem er besteht (harter Stein oder gefrorenes Wasser), hätte es bei einer Kollision mit dem 126.000 km/h schnellen Objekt zu einer Katastrophe kommen können. Nicht so stark wie bei den Dinosauriern vor 65 Mio. Jahren (man taxiert den Asteroid, der damals im Norden der mexikanischen Halbinsel Yucatan einschlug, auf einen Durchmesser von 10 bis 15 km), aber der Halloween-Asteroid hat durchaus das Potential, ein Land wie Deutschland augenblicklich zu zerstören. Der Tunguska-Asteroid, der 1908 in Sibirien in einer Höhe von etwa 5 bis 14 km über dem Erdboden explodierte, hatte nur einen Durchmesser von 30 bis 80 m, trotzdem wurden Bäume bis in eine Entfernung von 30 km entwurzelt und Fenster und Türen einer 65 km entfernten Siedlung eingedrückt.

Der Asteroid, der vor 15 Mio. Jahren im Nördlinger Ries einschlug, hinterließ einen Krater mit einem Durchmesser von 24 km. Man schätzt, dass er eine Größe von 1,5 km besaß und mit einer Geschwindigkeit von 72.000 km/h aufprallte. Die von ihm verursachte Explosion entsprach mehreren hunderttausend Hiroshima-Bomben, alles Leben im Umkreis von 100 km dürfte sofort ausgelöscht worden sein, noch in 200 km Entfernung brachte die Druckwelle rund ein Drittel aller Bäume zu Fall und geschmolzener Erdboden wurde bis zu 450 km weit geschleudert. [2] Der Halloween-Asteroid liegt irgendwo zwischen Tunguska und Nördlinger Ries. Findet der Einschlag im Meer statt, die Erdoberfläche ist bekanntlich zu 71 Prozent von Wasser bedeckt, sind gewaltige Tsunamis mit einer Höhe von mehr als hundert Metern möglich. Küstennahe Städte wie New York würden das kaum überstehen, selbst wenn die Entfernung zwischen ihnen und dem Einschlagsort mehrere tausend Kilometer beträgt.

Die Presse hat uns aber sogleich beruhigt, mit einem ähnlich nahen Vorbeiflug wie an Halloween sei erst wieder 2027 zu rechnen. Doch entsprechende Beruhigungspillen las man auch bei "2007 TU24" - ein Asteroid, der am 29. Januar 2008 in einem Abstand von 554.000 km an der Erde vorbeiraste. Die meisten dürften dieses Ereignis bereits vergessen haben. "2007 TU24" hat eine Größe von 250 m und wies eine Geschwindigkeit von 33.000 km/h auf. Entdeckt wurde er dreieinhalb Monate vor dem Vorbeiflug. "2009 DD45" (Durchmesser 35 m) flog am 2. März 2009 in einer Entfernung von rund 72.000 km an der Erde vorbei. Vorwarnzeit: 4 Tage. Bei "2011 MD" (Durchmesser 10 - 45 m) waren es am 27. Juni 2011 ganze 12.000 km. Vorwarnzeit: 5 Tage. "2012 DA14" (Durchmesser ca. 40 Meter) verpasste die Erde am 15. Februar 2013 nur um 27.000 km, entdeckt haben ihn die Astronomen ein Jahr zuvor. Solche Annäherungen finden beunruhigend oft statt.

Wie viele bis dato unbekannte Brocken da draußen herumfliegen, einige davon möglicherweise auf Kollisionskurs mit der Erde, lässt sich kaum feststellen. Angeblich soll es rund 7.000 Asteroiden geben, die in die Nähe der Erde gelangen können. Wissenschaftler erwarten, dass es ungefähr alle 5 Jahre zu einer Annäherung kommt, aber bloß alle 37.000 Jahre zu einem Impakt. Jedenfalls statistisch gesehen. Doch das ist nur eine Wahrscheinlichkeitsberechnung. Und was diese wert sind, haben wir ja in Bezug auf Atomunfälle schmerzlich zu spüren bekommen. Nicht viel. Es ist daher keine Frage des Ob, sondern nur eine Frage der Zeit, wann es auf unserem Heimatplanet den nächsten Asteroideneinschlag geben wird. Das kann in einer Woche oder in 100.000 Jahren passieren. Who knows? Mehr als beobachten und abwarten können wir ohnehin nicht, weil es derzeit noch kein Abwehrmittel gibt. Die Menschheit, mit irdischen Problemen vollauf beschäftigt, hat gerade damit begonnen, die Möglichkeit einer Asteroiden-Abwehr zu erforschen. 2022 soll eine Sonde den ersten Test wagen. Bis die Menschheit Gefahren aus dem Weltraum erfolgreich abwehren kann, werden wir wohl noch etliche Schrecksekunden erleben und ebenso viele Beruhigungspillen brauchen. Aber wir sollten das Thema ernst nehmen und diesbezüglich am Ball bleiben.

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[1] vgl. Wikipedia, Pareidolie
[2] Wikipedia, Ries-Ereignis