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10. November 2015, von Michael Schöfer
Wer regiert im Kanzleramt?


Wer regiert eigentlich im Bundeskanzleramt? Offiziell natürlich Angela Merkel, aber hält sie dort wirklich noch die Fäden in der Hand? Ende August hat Deutschland das Dublin-Verfahren, wonach Flüchtlinge in dem EU-Land Asyl beantragen müssen, in das sie zuerst einreisen, für Menschen aus Syrien ausgesetzt. "Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt", ließ das BAMF erklären.

"Die EU-Kommission hat die Aufhebung von EU-Regeln für Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland begrüßt. Die Maßnahme sei ein Akt der europäischen Solidarität, sagte Kommissionssprecherin Natasha Bertaud in Brüssel. Für die EU-Kommission zeige die deutsche Entscheidung, dass es nicht möglich sei, die Länder an den EU-Außengrenzen mit den vielen Flüchtlingen alleinzulassen." [1] Schon vergessen? Deutschland reagierte damals auf die skandalösen Zustände in den EU-Mitgliedstaaten Griechenland, Italien und Ungarn. "Wir schaffen das!", bekundete die Bundeskanzlerin und ließ sich für ihre humanitäre Geste loben, die Zeitungen wollten für sie den Friedensnobelpreis geradezu herbeischreiben. "Die Entscheidung war richtig, wir haben vielen Menschen geholfen", bekräftigte Angie. [2] In der Talkshow "Anne Will" versicherte Merkel: "Ich habe einen Plan." Leider versäumte sie es, der Öffentlichkeit ihren Plan zu erläutern. Man kann es folglich glauben - oder auch nicht.

"Wir schaffen das!" mündete zumindest postwendend in eine Verschärfung des Asylrechts, weitere Länder gelten nun als sogenannte "sichere Herkunftsstaaten", in die leichter abgeschoben werden kann. Unter anderem der Kosovo. Das junge Balkanland ist so sicher, dass die EU dort mit einer Rechtsstaatlichkeitsmission (EULEX) für Ordnung sorgen müssen. Militärisch abgesichert wird EULEX von der KFOR, der multinationalen Truppe unter der Leitung der Nato. Die Bundeswehr stellt einen Teil der Soldaten.

Die CSU dringt darauf, die Einzelfallprüfung beim Asylverfahren auch auf syrische Bürgerkriegsflüchtlinge anzuwenden. "Asylbewerber aus solchen Staaten dürften nicht mehr pauschal anerkannt werden, forderte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann." [3] Man wundert sich, warum die Bundesregierung Syrien nicht ebenfalls zu einem sicheren Herkunftsstaat erklärt. Baschar al-Assad würde sich gewiss freuen, die Bürgerkriegsflüchtlinge zweifellos weniger.

Während die Union mit sinkenden Umfragewerten zu kämpfen hat und die Bundeskanzlerin einen Ansehensverlust verdauen muss, hängen Angela Merkel vor allem die eigenen Parteifreunde an der Gurgel. Schlechte Umfragewerte sind in der Union selbst für nahezu als unangreifbar geltende Politiker brandgefährlich. Bundesinnenminister Thomas de Maizière verschärft unterdessen abermals die Gangart: Ab sofort gilt für syrische Flüchtlinge wieder das Dublin-Verfahren, sie "können also wieder in andere EU-Länder zurückgeschickt werden, über die sie in die Europäische Union eingereist sind". [4] Doch das Dublin-Verfahren ist ja nicht ohne Grund an der Realität zerschellt. Wie soll denn etwa Griechenland mit den Flüchtlingsmassen zurechtkommen? Auf den griechischen Inseln kommen derzeit pro Tag im Durchschnitt 5.000 Flüchtlinge an. Das Dublin-Verfahren war Ausfluss des deutschen Egoismus, der die Verantwortung kurzerhand den Mitgliedstaaten an der EU-Außengrenze zuschob. Bequem, aber auf Dauer unhaltbar. Doch nun soll das, was bereits gescheitert ist, erneut in Kraft gesetzt werden? Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln? Was soll denn das? Haben die Verantwortlichen den Verstand verloren?

Und die Kanzlerin? Sie schweigt! Sie präsentiert weder ihren Plan noch übt sie ihre Richtlinienkompetenz (Artikel 65 GG) aus. Die Regierung erscheint wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, die Kakophonie ist kaum noch auszuhalten. Wer regiert eigentlich im Bundeskanzleramt? Angela Merkel oder Thomas de Maizière? Oder ist es in Wahrheit längst Horst Seehofer, der bayerische Ministerpräsident? Lässt sich Merkel das Heft des Handelns von den eigenen Parteifreunden aus den Händen reißen? Will sie so Druck auf die EU-Staaten ausüben, die keine Flüchtlinge aufnehmen? In einer Demokratie wüsste das Volk schon gern Bescheid. Das Schauspiel, das die Politiker aufführen, ist beschämend und überdies höchst gefährlich. Vor allem, wenn man so etwas wie die AfD und PEGIDA im Nacken spürt.

Wie dem auch sei, die Rückkehr zum Dublin-Verfahren löst jedenfalls kein einziges Problem, es verlagert sie bloß zurück an den Rand der EU. Und Griechenland? Ach, Griechenland... Mein Gott, die sollen halt selbst sehen, wie sie an ihrer Seegrenze zurechtkommen. Lassen wir die Griechen jetzt wieder im Stich? Und die Italiener genauso? Luxemburgs Außenminister Asselborn hat vollkommen recht: "'Die Europäische Union kann auseinanderbrechen. Das kann unheimlich schnell gehen, wenn Abschottung statt Solidarität nach innen wie nach außen die Regel wird.' (…) Deutschland und die meisten EU-Länder hätten verstanden, dass die Genfer Flüchtlingskonvention gelte (...). In der EU seien aber auch 'einige dabei, die haben wirklich die Werte der Europäischen Union, was ja nicht nur materielle Werte sind, nicht richtig verinnerlicht. Der Kitt, der uns zusammenhält, ist noch immer die Kultur der humanen Werte. Und dieser falsche Nationalismus kann zu einem richtigen Krieg führen', sagte der Außenminister." [5] Jetzt muss die Bundeskanzlerin öffentlich Führungsstärke zeigen, jetzt muss sie endlich sagen, was sie vorhat. Blutleere Appelle reichen nicht mehr. Jetzt muss, wie man so schön sagt, Butter bei die Fische.

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[1] tagesschau.de vom 25.08.2015
[2] Süddeutsche vom 15.09.2015
[3] tagesschau.de vom 25.10.2015
[4] tagesschau.de vom 10.11.2015
[5] Handelsblatt vom 09.11.2015