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18. November 2015, von Michael Schöfer
Bloß die Marseillaise mitsingen, wird kaum ausreichen


Es ist ja nach den schlimmen Terror-Anschlägen von Paris en vogue, sich martialisch zu äußern. François Hollande: "Frankreich ist im Krieg" und "Wir müssen erbarmungslos sein". Verständlich, denn Politiker bekommen in solchen Situationen den Erwartungsdruck der Bevölkerung zu spüren. Den dürfen sie nicht missachten - schon allein im Interesse ihrer Wiederwahl, aber auch aus staatspolitischen Erwägungen heraus, Sicherheit ist zweifellos ein hochrangiges Rechtsgut. Emotional ist die Haltung, nun mit harten militärischen Maßnahmen zu antworten, durchaus nachvollziehbar. Ob sie auch politisch klug ist, steht auf einem anderen Blatt. Schließlich ist der sogenannte Islamische Staat erst durch den völkerrechtswidrigen Einmarsch der USA in den Irak entstanden, George W. Bush also gewissermaßen der Geburtshelfer des IS. Davor, den gleichen Fehler zu wiederholen, ist dringend abzuraten. Trotz der Wut im Bauch gilt es daher kühlen Kopf zu bewahren.

Der Kampf gegen den Terror ist in Europa in erster Linie eine Sache der Polizei, die salafistischen Fanatiker im Irak und Syrien mit Bodentruppen zu bekämpfen, ist dagegen zunächst einmal die Aufgabe der dortigen Regionalmächte. Erst wenn sich das als undurchführbar herausstellen sollte und der IS weiter wächst, wird sich ihm vielleicht - analog zum II. Weltkrieg - eine Staaten-Allianz (USA, Europa, Russland) annehmen. Und wie damals müssen dabei ideologische Differenzen in den Hintergrund treten. Letzteres ist nach Paris in den Bereich des Möglichen gerückt.

Man muss den IS von seinen Finanzquellen abschneiden, dessen Stärkung durch ausländische Kämpfer stoppen und, soweit das wegen des blühenden Schwarzmarktes geht, seinen Waffennachschub unterbinden. Keine der schweren Waffen, mit denen der IS die Bevölkerung terrorisiert, wird dort produziert. Es müsste doch möglich sein, die Versorgungswege der Terrorgruppe wirksam zu kappen. Hierbei ist die Arbeit der Geheimdienste natürlich unverzichtbar. Und es wäre äußerst nützlich, wenn sie sich dieser Aufgabe auch widmen würden. Aber offenkundig vergeuden sie wertvolle Ressourcen mit unnützen und rechtlich fragwürdigen Überwachungsmaßnahmen. Presseberichten zufolge hat etwa der Bundesnachrichtendienst neben einem deutschen Diplomaten auch den französischen Außenminister Laurent Fabius überwacht, außerdem u.a. den Internationalen Strafgerichtshof, das UN-Kinderhilfswerk UNICEF, das FBI sowie die Weltgesundheitsorganisation WHO. [1] Alles bekanntermaßen dem Terrorismus nahestehende Personen bzw. Organisationen. (Achtung: Ironie!) Angesichts dieser ganz und gar überflüssigen Aktivitäten muss man fragen: Hat der BND überhaupt noch Zeit für echte Terroristen? Eine Konzentration aufs Wesentliche würde gewiss helfen, womöglich mehr als die bereits absehbare Verschärfung der Gesetze. Apropos, an François Hollandes Stelle würde ich mir einmal Gedanken darüber machen, welche Folgen die beabsichtigte Stärkung der präsidialen Vollmachten nach einem Wahlsieg Marine Le Pens haben könnten.

Der Kampf gegen den Terror, egal ob durch Polizei oder durch das Militär, wird viel Geld kosten. Wie kann man es vor diesem Hintergrund zulassen, dass Firmen wie Google, Starbucks, Apple oder Amazon trickreich, aber in der Regel völlig legal Steuervermeidung betreiben? Die OECD schätzt die staatlichen Mindereinnahmen durch die Aushöhlung von Besteuerungsgrundlagen und der Verlagerung von Gewinnen auf vier bis zehn Prozent des globalen Körperschaftsteueraufkommens. Das sind jährlich immerhin 100 bis 240 Mrd. Dollar. [2] Stattdessen müssen sich Europas Armeen mit knappem und zum Teil minderwertigem Material herumschlagen. Die Polizei ist wegen chronischer Unterbesetzung total überlastet, zudem fehlt es auch ihr an Ausrüstung. Dennoch sollen beide unser Wirtschaftsmodell, von dem wiederum hauptsächlich die Weltkonzerne profitieren, notfalls mit ihrem Leben verteidigen. Hallo, geht’s noch? Würde jedes Unternehmen ganz normal seine Steuern zahlen, könnte sich der Staat endlich von der seit Jahren verordneten Magersucht erholen.

Oskar Lafontaine hat einst zu Recht darauf hingewiesen: "Die Unternehmer lieben kein Land, sie lieben nur den Gewinn." Das bedeutet: Aus einem nachvollziehbarem Mitgefühl heraus bloß die Marseillaise mitsingen, wird gegen die Herausforderungen des Terrorismus kaum ausreichen. Echte Solidarität heißt nicht, dass man nur verbal die Gemeinsamkeiten betont, sondern dass jeder in praxi dazu auch seinen Teil beiträgt. Steuersparmodelle sind in Zeiten, in denen es auf die Verteidigung der Freiheit ankommt, nicht nur kontraproduktiv, sondern geradezu verwerflich.

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[1] Stern.de vom 11.11.2015
[2] manager-magazin vom 17.11.2015