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29. November 2015, von Michael Schöfer
Wir brauchen in erster Linie eine politische Lösung

"Es sind die vorgefassten Meinungen, die es den Völkern so schwer machen, einander zu verstehen, und die es ihnen so leicht machen, einander zu verachten." (Romain Rolland, 1866-1944, französischer Schriftsteller) Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die Russen denken? Vielleicht ungebildete, gewaltaffine, Wodka saufende Männer und korpulente Frauen vom Typ Babuschka? Rasputin und Iwan der Schreckliche? Dostojewski oder Tschaikowski vermutlich eher weniger. Und wenn Russland dann auch noch von Politikern wie Boris Jelzin (inkompetenter Alkoholiker) oder Wladimir Putin (skrupelloser Autokrat) regiert wird, scheint das Ihr Bild, das Sie sich von den Russen gemacht haben, bloß zu bestätigen.

Was denken Sie über die Polen? Nationalistisch, bigott und homophob? Über die Italiener? Mafia und Dolce Vita? Über die Franzosen? Rotwein, Baguette, Baskenmütze und 2CV? Möglicherweise denken Sie an auch elegante Damen, die hinreißend aussehen und herrlich nach Parfüm duften. Doch die Klischees stimmen fast nie mit der viel komplexeren Wirklichkeit überein, genauso wenig wie die Klischees über uns Deutsche: pflichtbewusst, diszipliniert, humorlos, fremdenfeindlich. Dennoch enthalten Klischees immer ein Körnchen Wahrheit. Wenn wir uns gedanklich in andere Völker hineinversetzen könnten, würden wir sie vielleicht besser verstehen. Aber wir sehen meist nur das, was wir sehen wollen. "Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil." (Albert Einstein)

Was fällt Ihnen zu Muslimen ein? Wahrscheinlich denken Sie jetzt an Terrorismus, Intoleranz, religiösen Fanatismus und mangelnde Schulbildung. Kein Land mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit ist demokratisch, deren Rechtsprechung empfinden wir zu Recht als barbarisch (z.B. Saudi-Arabien). Tiefstes Mittelalter. In diesen Ländern werden Konflikte oft mit Gewalt gelöst. Und warum, werden Sie vielleicht fragen, fällt es gerade Muslimen so schwer, sich in die westliche Gesellschaft zu integrieren? Stichworte: Berlin-Neukölln und die französischen Banlieues. Das alles ist wahr und zugleich ein Klischee. Pauschalurteile sind dumm, egal wen sie treffen. Wir sehen keine Individuen, sondern eine amorphe Masse. Grundhaltung: Ein fauler Apfel verdirbt den ganzen Korb. Anders ausgedrückt: Ein einziger Terrorist diskreditiert eine Million friedliche Flüchtlinge.

Vertauschen wir kurz die Perspektive: Was würden Sie denken, wenn Sie als Muslim auf die Welt gekommen wären? Würden Sie mit dem Westen vor allem die Kreuzzüge, den Kolonialismus, die Golfkriege und Drohnenangriffe verbinden? Würden Sie sich von den westlichen Militärbasen in den muslimischen Staaten bedroht fühlen und fragen, warum es in Europa oder Amerika keine muslimischen Militärbasen gibt? Ist dafür Ihrer Meinung nach das seit Jahrhunderten bestehende Machtungleichgewicht eine akzeptable Rechtfertigung? Und wenn Sie als Mustafa in einer Pariser Vorstadt aufgewachsen wären, würden Ihnen Liberté, Égalité, Fraternité etwas bedeuten? Oder hätten Sie dafür bloß Verachtung übrig? Können Sie sich das überhaupt vorstellen?

Das soll keinesfalls etwas legitimieren, schon gar nicht die Pariser Anschläge. Aber es wird wohl kaum ausreichen, den sogenannten Islamischen Staat in Grund und Boden zu bombardieren. Es ist zwar absolut richtig, den IS zu bekämpfen, doch es fehlt nach wie vor ein politisches Konzept für die Nachkriegsordnung. Von der Beseitigung der Verwerfungen in den französischen Banlieues ganz zu schweigen. Bislang war es ja so, dass in Nahost stets eine noch viel schlimmere Terrorgruppe nachfolgte, sobald man eine andere militärisch zurückdrängte. Die Terrorgruppen haben offenbar keine Nachwuchsprobleme. Woher kommt das? Und in unseren Augen vollkommen unverständlich: Die Sympathien junger europäischer Muslime für den IS wachsen von Jahr zu Jahr. Man kann zwar den IS besiegen, doch wie bekommen wir die salafistische Ideologie in den Griff? Das wird mit Bombardements allein wohl kaum gelingen. Was fehlt, ist eine echte Perspektive, insbesondere eine soziale. Geistige und materielle Armut waren schon von jeher der beste Nährboden des Terrorismus, und die besiegt man nicht mit Flugzeugträgern. Nation building à la George W. Bush hat bekanntlich nicht funktioniert, sondern eher das Gegenteil bewirkt.

Momentan sehen wir in puncto Terror viel Stückwerk, bedauerlicherweise wenig durchdachte Strategie. Populistische Forderungen werden uns da kaum weiterhelfen, denn häufig widersprechen diese dem Grundgesetz und dem Völkerrecht. Wenn wir die Demokratie und die offene Gesellschaft verteidigen, sollten wir das mit adäquaten Mitteln tun. Der Satz von Benjamin Franklin stimmt nämlich nach wie vor: "Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren." Ich weiß nicht, was der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán verteidigt, demokratische Grundsätze sind es jedenfalls nicht. Auch die neue polnische Regierung glänzt schon nach kurzer Amtszeit mit autokratischen Anwandlungen: Vizeregierungschef und Kulturminister Piotr Glinski forderte, das Theaterstück "Der Tod und das Mädchen" von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek abzusetzen. Eine Journalistin des staatlichen Fernsehsender TVP, die den Minister mit der Frage nach der Rechtsgrundlage seines Zensurversuchs in Erklärungsnot brachte, verlor ihren Job. Die Ernennung von fünf Verfassungsrichtern wurde rechtswidrig annulliert und die Europafahne aus dem Amtssitz von Regierungschefin Beata Szydlo verbannt. Kritiker warnen bereits vor einem Staatsstreich. "Bald leben wir in einem totalitären System", heißt es. Und jetzt stellen Sie sich vor, in den Niederlanden kommt Geert Wilders (PVV), in Frankreich Marine Le Pen (FN), in Österreich Heinz-Christian Strache (FPÖ) und in Deutschland die AfD an die Macht. Gute Nacht Europa, gute Nacht Demokratie.

Wenn selbst im reichen Deutschland die Mittelschicht finanziell abzurutschen droht und sich, wie wir erst kürzlich wieder lesen durften, die Armut weiter verfestigt, dann ahnt man, woher auch dafür der Nährboden kommt. Hier wie dort gilt: Der Schlüssel für vieles liegt in der Wirtschaft, nicht beim Militär. Deshalb brauchen wir in erster Linie eine politische Lösung. Ohne Letztere militärisch zu reagieren wird, so fürchte ich, an den beklagenswerten Zuständen kaum etwas ändern. Dann sind weitere Konflikte geradezu vorprogrammiert.