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22. Dezember 2015, von Michael Schöfer
Selbstverständliches


Vielleicht ist es mal wieder Zeit, an Selbstverständliches zu erinnern. Daran, was den Westen im Vergleich zu anderen stark und wohlhabend gemacht hat. Offenbar haben viele die Lehren aus der Geschichte vergessen oder ignorieren sie.

Der Mensch als solcher ist zwar nicht schlecht, aber er gerät oft durch das Schlechte in Versuchung. Nicht selten erliegt er seiner Habgier und berauscht sich an der Macht. Da erfahrungsgemäß nur wenige den durchaus verlockenden Versuchungen widerstehen können, seien sie anfangs auch noch so sehr mit guten Vorsätzen gestartet, ist Kontrolle unverzichtbar. Das sind Beschränkungen, die jedem ungeachtet seiner gesellschaftlichen Stellung Einhalt gebieten. Deshalb haben wir so etwas Wundervolles wie den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die Menschenrechte und die Demokratie erfunden.

Der Rechtsstaat bewahrt den Einzelnen nicht nur vor der Willkür der Mächtigen, sondern gibt auch der Wirtschaft Rechtssicherheit. Dort, wo keine Rechtssicherheit existiert, wird die ökonomische Entwicklung gehemmt. Niemand investiert, wenn er um die Früchte seiner Investition fürchten muss. Das Land mag vielleicht sogar reich sein, wenn es etwa begehrte Bodenschätze verkaufen kann, doch die mangelnde Rechtssicherheit schlägt sich allzu oft in einer extremen Ungleichverteilung des Reichtums nieder. Wenige Privilegierte sahnen nahezu alles ab, während für die große Masse nur Brosamen übrig bleiben.

Russland ist hierfür das Paradebeispiel: Wäre der politische Prozess gegen Michail Chodorkowski, bei dem dieser nicht bloß seine Freiheit, sondern auch seine Firma (Yukos) verlor, in Deutschland möglich gewesen? Undenkbar! Russland lebt hauptsächlich von seinen Energie- und Waffenexporten, eine konkurrenzfähige zivile Industrie hat sich dagegen nie etablieren können. Warum wohl? Wegen der Rechtsunsicherheit, der Korruption und der Willkür der Behörden. Und nicht ohne Grund lebt gut die Hälfte der russischen Bevölkerung in Armut. Tendenz steigend. Inzwischen verlassen sogar die Reichen aus Angst vor Putin das Land und haben das Leben in den westeuropäischen Demokratien zu schätzen gelernt. In London genießen sie nicht nur den Flair einer Weltmetropole, sondern darüber hinaus auch den Schutz der britischen Justiz.

Keiner steht über dem Gesetz, sei er auch noch so mächtig. Jeder hat Anspruch auf ein faires Verfahren, alle dürfen auf die im Kanon der Menschenrechte niedergelegten Regeln pochen. Darüber, dass keiner seine Macht missbraucht, wachen unabhängige Gerichte. Deren Unabhängigkeit garantiert wiederum die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative. Keine Institution verfügt über unbeschränkte Macht, alle kontrollieren sich gegenseitig. Hinzu kommt die Kontrolle durch eine freie Presse. Die Zensur ist abgeschafft, es herrscht Informationsfreiheit und jeder hat das Recht, seine Meinung zu äußern. "Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend." (BVerfG, Urteil vom 15.01.1958) Toleranz, Pluralismus, freie Wahlen - im Grunde ist alles recht einfach.

Nein, nur scheinbar einfach, denn dafür mussten die Generationen vor uns viele Opfer bringen. Es war ein langer Kampf, bis sie diese Prinzipien durchsetzen konnten, er hat Jahrhunderte gedauert. Und man muss sich immer wieder aufs Neue um die Demokratie bemühen, denn sie ist einerseits sehr stark, was ihre gesellschaftlichen Auswirkungen angeht, andererseits aber auch ungemein verletzlich, weil sie zahlreiche Gegner hat. Zudem wird kolportiert, die Masse sei bedauerlicherweise nach wie vor leicht verführbar. Der Firnis der Zivilisation ist bekanntlich dünn.

Länder, die keine Gewaltenteilung und unabhängige Justiz kennen, leiden unter dem Machtmissbrauch der Herrschenden. Es dominieren Rechtsunsicherheit, Korruption und Willkür der Behörden. Langfristig ist das gleichbedeutend mit ökonomischer Rückständigkeit. Warum sind die reichen Staaten der Erde fast ausnahmslos Demokratien? Und warum gibt es kaum autoritär regierte Staaten, in denen die Wirtschaft floriert? Ausnahmen, wie die Volksrepublik China, bestätigen die Regel. Aber auch bei China muss sich erst noch zeigen, wohin die rasante Entwicklung geht, schließlich ist das moderne China noch recht jung. Ob sich der wirtschaftliche Aufstieg langfristig mit der Diktatur der Kommunistischen Partei vereinbaren lässt, ist mehr als fraglich.

Leider gibt es im Westen immer mehr politische Kräfte, die mit den oben genannten Prinzipien offenbar wenig am Hut haben. Die rechtspopulistischen Regierungsparteien in Ungarn und Polen beispielsweise, in vielen anderen Ländern erzielen nationalistisch orientierte Parteien ebenfalls große Stimmengewinne. Aber auch von den Präsidentschaftskandidaten der US-Republikaner hört man fast ausnahmslos krudes Zeug. Vor Donald Trump kann einem angst und bange werden. Man stelle sich vor, dieser Demagoge wäre Oberbefehlshaber der stärksten Armee der Welt und säße am Roten Knopf. Nicht auszudenken. Doch das Allerschlimmste ist der Zuspruch, den solche Subjekte neuerdings bekommen. "Das trostloseste Laster ist die Unwissenheit, die alles zu wissen glaubt und sich deshalb das Recht anmaßt zu töten." (Albert Camus, Die Pest)

Haben wir vergessen, woher wir kommen? Wollen wir wirklich in vordemokratische Zeiten zurück? Sind uns unsere Prinzipien (Rechtsstaat, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Demokratie, Meinungsfreiheit etc.) tatsächlich so wenig wert? Falls ja, wird es für viele ein böses Erwachen geben. Politisch und ökonomisch. Glaube doch keiner, dass eine autoritäre Regierung uns mit Massenwohlstand beglücken wird. Die Probleme, unter denen wir leiden, darf man keinesfalls negieren. Aber der gütige Autokrat existiert doch bloß in unserer Phantasie, in der Realität haben bislang alle kläglich versagt. Sie entpuppten sich als korrupte und eigensüchtige Despoten, die ihre Länder am Ende ruiniert zurückließen. Außerdem krallen sie sich mit allen Mitteln an ihre Macht. Sie wieder loszuwerden fällt daher äußerst schwer. Dort, wo es keine Beschränkung der Macht gibt, haben zweifelhafte Individuen leichtes Spiel. Und die Mehrheit der Menschen hat es ziemlich schwer. Eigentlich alles Selbstverständlichkeiten. Eigentlich.