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23. Dezember 2015, von Michael Schöfer
Wir sollten froh sein um Firmen wie Google

Ich glaube, die meisten sind sich wohl inzwischen darüber einig geworden, dass der Staat die Wirtschaft weder total dominieren noch ihr freie Hand lassen sollte. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Meiner Ansicht nach muss der Staat dort eingreifen, wo der Markt versagt, etwa im sozialen Bereich oder in puncto Umwelt. Und zwar indem er beispielsweise einen für alle verbindlichen Mindestlohn vorschreibt und Emissionsgrenzwerte festlegt. Er sollte zum Funktionieren des Wettbewerbs Monopole und Kartelle unterbinden, für eine gerechte Besteuerung sorgen und im Bereich der Daseinsfürsorge (Energie, Trinkwasser, öffentlicher Verkehr, Banken etc.) profitorientierte Privatunternehmen heraushalten. Vereinfacht gesagt: Der Staat soll lediglich die Leitplanken setzen, also die Rahmenbedingungen. Innerhalb der Leitplanken kann sich dann die Wirtschaft entfalten. Der Staat braucht sich auf den Märkten nicht selbst als Akteur zu betätigen.

Wenn man sich die Geschichte anschaut, waren weder die totale Kontrolle noch eine Haltung des Laissez-faire für die Allgemeinheit von Nutzen. Der Streit geht heute vielmehr darum, wie eng oder weit die Leitplanken konkret zu setzen sind. Stehen sie zu nah beieinander, werden sinnvolle Entwicklungen be- oder gar verhindert. Stehen sie zu weit auseinander, riskiert man soziale Verwerfungen. Es ist schwer, dabei die richtige Balance zwischen Innovation und Erhalt von Bewährtem zu finden. Bei aller berechtigten Kritik im Einzelfall: Ich frage mich zunehmend, ob wir in Deutschland der Innovation nicht zu wenig Freiraum gewähren, denn die Musik, nach der die Welt künftig tanzen wird, spielt allzu oft andernorts. Zum Beispiel in den USA. Unsere Wirtschaft verharrt dagegen in alten Denkmustern.

Google mag eine Datenkrake sein, der Marktführer im Bereich der Suchmaschinen wird deshalb von vielen heftig kritisiert. Gelegentlich droht man mit der Zerschlagung des Konzerns, weil er seine Marktmacht missbrauche. Obendrein verwende Google legale Buchungstricks, um Steuern zu vermeiden. Diese Vorwürfe sind keineswegs unberechtigt, doch wir dürfen nicht bloß die Risiken sehen, sondern sollten auch die Chancen erkennen. Google gehört nämlich zu den innovativsten Firmen dieses Planeten. Das Unternehmen hat nicht nur die mit Abstand beste Suchmaschine konstruiert, sondern ebenso einen beliebten Browser (Chrome) und zwei Betriebssysteme (Android, Chrome OS). Die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin lassen fahrerlose Autos entwickeln (Google Driverless Car) und wollen abgelegenen Landstrichen mithilfe von Stratosphären-Ballonen das Internet erschließen (Project Loon). Google bietet eine Reihe kostenloser Dienste an, etwa Google Books (Büchersuche) und Gmail (E-Mail-Dienst) sowie viele nützliche Programme (u.a. Google Earth, Google Maps), die man einfach nicht mehr missen möchte. Was würde davon existieren, wenn es nach den Google-Gegnern ginge? Vermutlich nicht allzu viel. Ob es andere genauso gut hinbekommen hätten? Das ist fraglich, aber weder zu beweisen noch zu widerlegen.

Meine Worte klingen jetzt in Ihren Ohren eventuell ein bisschen ketzerisch, aber die Unternehmensgeschichte von Google nötigt mir Respekt und Bewunderung ab. Die machen wenigstens etwas, Unternehmertum as its best. Vielleicht bewegen wir uns dank Google in ein paar Jahrzehnten nur noch mit autonomen Fahrkabinen durchs Land, die uns vollautomatisch ans gewünschte Ziel bringen. Wir müssen diese Fahrkabinen nicht einmal mehr kaufen, sie jeweils für die Dauer der Hin- und Rückreise zu mieten genügt vollkommen. Bedenken Sie einmal, was das für unsere chronisch zugeparkten Städte bedeuten könnte. Und Rentner in ländlichen Regionen bleiben dennoch mobil, selbst wenn sie nicht mehr Autofahren können. Das hält womöglich den demographischen Tod ganzer Regionen auf. Ich bin alles andere als blauäugig, Google macht das natürlich nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit. Nein, das Unternehmen will damit Geld verdienen. Viel Geld sogar. Doch das ist per se nicht verwerflich.

Alleinfahrende Autos sind auch ein Faible von Elon Musk. Durch den Verkauf von zwei Internetfirmen (Zip2, PayPal) reich geworden, hat Musk seine unternehmerischen Aktivitäten auf unterschiedliche Bereiche ausgeweitet. Tesla Motors baut luxuriöse Elektroautos und will - wie Google - selbstfahrende Autos herstellen. SpaceX ist ein Raumfahrtunternehmen, das gerade einen spektakulären Erfolg erzielte: die Rückkehr der ersten Antriebsstufe einer Rakete zu ihrem Startpunkt. Ziel ist die Mehrfachverwendung von Raketen, was Raumflüge enorm verbilligen könnte. SpaceX will u.a. mit preisgünstigen Raketenstarts ein Netzwerk von Satelliten zur Internetversorgung aufbauen. Doch damit nicht genug, Elon Musk hat auch noch vor, das Transportwesen zu revolutionieren. Hyperloop Transportation Technologies plant, Menschen in einer Niedrigdruckröhre mit einer superschnellen Magnetschwebebahn (Reisegeschwindigkeit bis zu 1.225 km/h) über große Entfernungen zu befördern. Momentan wird gerade eine 8 km lange Teststrecke in Angriff genommen. Ziel ist, Städte wie Los Angeles und San Francisco zu verbinden, dabei wird eine Strecke von 570 km in lediglich 35 Minuten bewältigt. Die Fahrpreise bei Hyperloop sollen nur ein Drittel des Preises von Flugtickets betragen. Außerdem ist Musk bei SolarCity engagiert. Das Unternehmen vertreibt Solarstromanlagen. Schließlich hat er noch Geld für die Erforschung künstlicher Intelligenz zur Verfügung gestellt. Vielleicht klappt am Ende nicht alles, was der umtriebige Visionär anpackt, doch im Vergleich dazu hat Deutschland wenig anzubieten.

Wahnsinn, wie rasch sich die Welt verändert. Während sich deutsche Autobauer auf die Optimierung des Verbrennungsmotors konzentrierten, ist in den USA schon die Zukunft des Automobilsektors angebrochen. Hierzulande bleibt uns eigentlich nur noch, auf den baldigen Durchbruch der Brennstoffzelle zu hoffen. Gegenwärtig hinken wir jedenfalls den USA in puncto E-Mobilität deutlich hinterher. Worauf deutsche Ingenieurskunst heute zu Recht stolz ist, könnte sich bereits morgen als Makulatur erweisen. Der Ökonom Joseph Schumpeter bezeichnete den Wandel in der Wirtschaft als "schöpferische Zerstörung". "Auslöser für die schöpferische Zerstörung sind Innovationen, die von den Unternehmern mit dem Ziel vorangetrieben werden, sich auf dem Markt durchzusetzen." [1] Dadurch werden alte Strukturen verdrängt und letztlich zerstört, dieser Prozess ist nach Schumpeter "das für den Kapitalismus wesentliche Faktum". Die Zerstörung ist jedoch notwendig, damit eine Neuordnung stattfinden kann.

Mit anderen Worten: Es hat überhaupt keinen Sinn, sich der schöpferischen Zerstörung entgegenzustemmen. Der Anpassungsprozess ist für die Betroffenen oft bitter, aber unumgänglich. Das haben ja zuletzt die deutschen Stromversorger bewiesen. Viel zu lange auf fossile Energieträger und Atomkraftwerke setzend, haben sie die Energiewende (die zunehmende Nutzung regenerativer Energieträger wie Wind und Sonne) verschlafen und müssen deshalb sogar um ihr Überleben kämpfen. Staatliche Eingriffe bringen in so einem Fall nur temporär Entlastung, aber keinen endgültigen Schutz. Der Kollaps fällt dann zum Schluss bloß umso härter aus. Länder, die Schutzmauern um ihre alten Industrien errichten, verlieren zwangsläufig den Anschluss an die technologische Entwicklung, weil die Innovation ja in anderen Ländern weiter voranschreitet. Unausweichliche Folge ist der ökonomische Niedergang durch den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit.

Ein Beispiel: Die Chinesen erfanden unter anderem den Kompass (4. Jh. v. Chr.), das Papier (ca. 2. Jh. v. Chr.), das Porzellan (620 n. Chr.), den Buchdruck (erste Hälfte des 8. Jh. n. Chr.), das Schießpulver (850 n. Chr.) und die Kanone (um 1250 n. Chr.). Sie konnten bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. (!) mit ihren Hochöfen Gusseisen erzeugen und produzierten Ende des 11. Jahrhunderts 125.000 Tonnen Roheisen (Großbritannien erreichte dieses Quantum erst 700 Jahre später). Schon im 5. Jahrhundert n. Chr. entwickelten sie ein Verfahren zur Stahlherstellung, mit dem das Siemens-Martin-Verfahren von 1864 vorweggenommen wurde. Im 12. Jahrhundert nutzten sie mit Wasserkraft betriebene Maschinen zum Spinnen von Hanf (rund 500 Jahre vor der britischen Textilindustrie). [2] China war also in vielen Bereichen führend, beschloss dann aber kurz vor Beginn der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, sich von der Außenwelt abzuschotten. Entwicklungen in anderen Regionen wurden nicht wahrgenommen bzw. bewusst ignoriert, die Wissenschaft aufgrund gesellschaftlicher Erstarrung und politischer Despotie nicht konsequent genug weiterentwickelt. In den beiden Opiumkriegen (1839 bis 1842 und 1856 bis 1860) hat das "Reich der Mitte" dann erkannt, dass die selbstgewählte Isolation militärische Unterlegenheit und Fremdherrschaft bedeutet.

Wir sollten froh sein um Firmen wie Google, weil sie den Prozess der schöpferischen Zerstörung vorantreiben und Neues erschaffen. Aufgabe des Staates ist es wiederum, den unaufhaltsamen Wandel sozial abzufedern. Natürlich gibt es Risiken, wie etwa bei der Gentechnik. Blinder Fortschrittsglaube ist demzufolge ebenso wenig angebracht. Aber unter dem Strich sollten wir Innovationen fördern, nicht behindern oder gar verhindern.

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[1] Wikipedia, Schöpferische Zerstörung
[2] David S. Landes, Wohlstand und Armut der Nationen, Berlin 2002, und Konrad Seitz, China, München 2006