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01. Januar 2016, von Michael Schöfer
Hysterie


Na klar, das kann doch nur ein Mann schreiben, werden Sie vielleicht sagen. Aber oft ist eben vieles unklar und nur scheinbar evident. Es geht um Fälle von sexueller Belästigung oder Vergewaltigung. Um eines gleich vorweg deutlich zu machen: Ich bestreite weder, dass es solche Taten gibt, noch will ich sie bagatellisieren. Sexualdelikte gehören zu den schlimmsten Dingen, die Menschen einander antun können. Dennoch habe ich des Öfteren das Gefühl, dass sich diesbezüglich eine Hysterie ausbreitet.

In Israel ist gerade der 57-jährige Vize-Regierungschef und Innenminister Silvan Schalom wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung zurückgetreten. Eine ehemalige Mitarbeiterin erklärte, Schalom "habe seine Position als Chef missbraucht, als er sie zum Oralverkehr aufforderte. Der Vorfall liegt allerdings mehr als zehn Jahre zurück." [1] Inzwischen haben sich nach der Veröffentlichung mehrere Frauen gemeldet, die dem Ex-Minister vorwerfen, sie ebenfalls sexuell belästigt zu haben.

Dieser Fall erinnert an den amerikanischen Entertainer Bill Cosby, der vor kurzem wegen sexueller Nötigung angeklagt wurde. Cosby soll eine Frau "in sein Haus eingeladen, sie mit Wein und Tabletten gefügig gemacht und anschließend missbraucht haben. Cosby bestreitet nicht den Sex, sagt aber, er sei einvernehmlich gewesen." Das Ganze hat sich jedoch bereits Anfang 2004 zugetragen, mithin schon vor 11 Jahren. [2] Die Beweislage sei "erdrückend", versichert der zuständige Staatsanwalt. Es gebe sehr viele Fakten, die die Vorwürfe untermauern. Darauf, was nach so langer Zeit tatsächlich noch bewiesen werden kann, darf man gespannt sein. Mittlerweile werfen mehr als 40 Frauen Cosby vor, sie belästigt oder vergewaltigt zu haben, die Vorwürfe reichen zeitlich bis ins Jahr 1965 zurück. Ja, Sie haben richtig gelesen: 50 Jahre! Damals regierte im Weißen Haus noch Lyndon B. Johnson, der direkte Nachfolger des 1963 ermordeten John F. Kennedy. Inzwischen wird Cosby in den USA als "Monster" beschimpft.

Ich will nicht behaupten, Schalom und Cosby seien unschuldig. Das festzustellen ist ausschließlich Sache der Gerichte. Aber was soll man auf Vorwürfe, man habe vor zehn oder sogar fünfzig Jahren Frauen belästigt, entgegnen? Nichts. Oder können Sie sich noch genau daran erinnern, wie Ihr Tête-à-tête, sagen wir mal, am 8. Juli 1972 ablief? Falls Sie sich überhaupt daran erinnern. Wenn Sie an diesem heißen Sommertag (laut DWD im Raum Karlsruhe +29 Grad Celsius) unter dem Einfluss von Alkohol im Partykeller ein bisschen mit Petra herumgefummelt haben, könnte demnächst noch etwas auf Sie zukommen. Sollten Sie unterdessen berühmt geworden sein, droht Ihnen zumindest eine öffentliche Bloßstellung, gegen die Sie sich kaum wehren können. Nur zur Erinnerung: Ein fundamentales Prinzip des Rechtsstaates ist die Unschuldsvermutung. "Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist." (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948) Über die mediale Vorverurteilung schweigt sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus.

Das ist ja das perfide, die Vorwürfe wabern durchs Land, doch man kann wenig dagegen tun. Bei verjährten Anschuldigungen gibt es nicht einmal einen Prozess. Der gute Ruf ist jedenfalls erst einmal dahin. Ein Beispiel: Gegen den früheren Premierminister Edward Heath gibt es neuerdings Pädophilie-Vorwürfe. "Die Zeitung 'Daily Mirror' berichtete etwa, dass ein heute 64 Jahre alter Mann, der eingestand, einst als Strichjunge gearbeitet zu haben, behauptet als Zwölfjähriger von Edward Heath vergewaltigt worden zu sein." Darüber hinaus hätten die Behörden polizeiliche Ermittlungen gegen Heath vertuscht. Heath kann sich nicht mehr wehren, er starb im Jahr 2005. Sein Biograph John Campbell "hebt hervor, dass er nicht den geringsten Hinweis auf den Wahrheitsgehalt der 'verunglimpfenden' Vorwürfe gefunden habe. Campbell beklagt, die unangenehme Folge der jüngsten Skandale sei es, allzu bereitwillig Gerüchten glauben zu schenken." [3] Die Vergewaltigung des Zwölfjährigen soll sich vor 52 Jahren (!) zugetragen haben, also im Jahr 1963. Damals regierte in London ein gewisser Harold Macmillan, in Frankreich war Charles de Gaulle an der Macht, und im beschaulichen Bonn hielt Konrad Adenauer die Fäden in der Hand. Nach so langer Zeit werden sich wahrscheinlich weder belastende noch entlastende Beweise finden lassen. Aber wenn man heute bei Google nach "Edward Heath" sucht, finden sich in der angezeigten Linkliste nach der deutschen und englischen Wikipedia auf Platz 1 und 2 nur noch Berichte über den angeblichen Sexskandal. Woran wird man sich in 20 Jahren erinnern? An den britischen Politiker oder den vermeintlichen Kinderschänder?

Bekanntlich reagiert man insbesondere in den USA auf alles Sexuelle gerne hysterisch. Die Fachhochschule Dortmund warnt ihre Studenten im Ratgeber "Arbeiten in den USA" davor, dass dort sogar Komplimente als sexuelle Belästigung ausgelegt werden können. Von intensiven Blickkontakten sei ebenfalls abzuraten. [4] Erinnern Sie sich noch an "Nipplegate", als Justin Timberlake während einer Fernsehübertragung unabsichtlich Janet Jacksons Brust entblößte? "In einem Interview gab Jackson später zu, es sei geplant gewesen, dass Timberlake ihr einen Teil ihrer schwarzen Korsage herunterreißen sollte. Laut einer Sprecherin von Janet Jackson riss Timberlake im Eifer des Gefechts dann aber auch den Büstenhalter herunter, den Janet unter ihrem Oberteil trug und der ursprünglich eigentlich alles hätte verdecken sollen." Eine Zuschauerin reichte "im Namen aller amerikanischen Bürger, die den empörenden Auftritt gesehen haben", Klage bei Gericht ein. Sie warf Jackson und Timberlake vor, die Show hätte "explizite sexuelle Handlungen beinhaltet, die ausschließlich dem Zweck gedient hätten, Aufmerksamkeit zu erregen und schließlich ihren eigenen Profit zu erhöhen". [5]

Kurios: Im US-Bundesstaat Colorado wurde ein Sechsjähriger für einen Tag vom Schulunterricht suspendiert, weil er einer befreundeten Mitschülerin einen Handkuss gab, zuvor hatte er sie auf die Wange geküsst. "In seiner Schulakte ist nun ein 'Fall von sexueller Belästigung' vermerkt." [6] Unter Umständen wird ihn diese Lappalie bis ans Lebensende verfolgen. Ginge es danach, säße wohl die gesamte Münchner Schickeria (Bussi-Bussi-Gesellschaft) in Stadelheim. Auch Jacques Chirac, der frühere französische Präsident, hätte sich der sexuellen Belästigung schuldig gemacht, als er Bundeskanzlerin Angela Merkel 2007 mehr oder weniger formvollendet die Hand küsste. Vermutlich rettete ihn nur seine Immunität. Besonders empörend: Gewaltszenen oder rechtsradikale Hetze stellen für Facebook kein Problem dar, ganz im Gegensatz zu blanken Brüsten. [7] Der Dramatiker Arthur Miller hat in seinem Theaterstück "Hexenjagd" die Mechanismen solcher Hysterien anschaulich gemacht. Wäre es nicht so ernst, könnte man darüber lachen.

Allerdings reagiert man auch hierzulande zuweilen hysterisch. In den neunziger Jahren waren beispielsweise in Worms 25 Personen des massenhaften Kindesmissbrauchs angeklagt. Doch am Ende stellte sich alles als Luftblase heraus: "Den Wormser Massenmissbrauch hat es nie gegeben. Bei allen Angeklagten, für die ein langer Leidensweg zu Ende geht, haben wir uns zu entschuldigen", stellte der Vorsitzende Richter abschließend in seinem Urteil klar. [8] Max Steller, emeritierter Professor für forensische Psychologie an der Berliner Charité, beklagt sich über schlampige Ermittlungen und behauptet: "Jeder kann unschuldig verurteilt werden." [9] In Worms hat er mitgeholfen, das Geflecht aus Lügen und Scheinwahrheiten aufzuklären. Das Leben der Angeklagten war dennoch zerstört.

Ein Fall aus jüngster Vergangenheit: Im Sommer 2014 berichtete die Presse über sexuelle Gewalt in einer Mainzer Kindertagesstätte. Drei- bis Sechsjährige (!) demütigten und terrorisierten sich angeblich über längere Zeit hinweg gegenseitig, ohne dass die Erzieher eingeschritten wären. "Über Monate soll sich ein System aus zum Teil sexualisierter Gewalt entwickelt haben, von dem nahezu alle der 55 betreuten Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren betroffen waren", hieß es. "Der katholische Träger hat die Kindertagesstätte geschlossen und die Mitarbeiter entlassen." Häufig sind dann auch Experten für eine Schnelldiagnose zur Stelle: "Was wir wissen, ist schockierend und verstörend. Selbst für uns, die viel mit Missbrauchsfällen zu tun haben, ist das etwas Besonderes: Es gab offenbar eine Art moralische Abwärtsspirale unter den Kindern, die sich über die Zeit verselbständigt hat. (…) Die Einzeltaten würde ich als sadistische Gewalt mit sexueller Tönung bezeichnen. Es gab auch erpresserische Handlungen und es wurde ein Drohszenario aufgebaut." [10]

Nun, gut ein halbes Jahr danach, müssen die Verantwortlichen kleinlaut eingestehen: "Mainzer Missbrauchsskandal hat offenbar nie stattgefunden." Die Leitende Oberstaatsanwältin teilte mit: "Die Vorwürfe haben sich nach dem bisherigen Ermittlungsstand nicht erhärtet, es haben sich bislang überwiegend entlastende Erkenntnisse ergeben." [11] Das nützt den Mitarbeitern, die aufgrund unhaltbarer Verdächtigungen fristlos entlassen wurden, wenig. Derzeit kämpfen sie vor Gericht gegen ihre Kündigungen. Ob man sie je rehabilitiert, ob sie je wieder in ihrem erlernten Beruf arbeiten dürfen, steht in den Sternen. Wie es zu den unbegründeten Vorwürfen kam, ist nach wie vor unklar. "Da spielten wohl mehrere Faktoren eine Rolle, meint die Juristin und zählt auf: Besorgnis von Eltern um ihre Kinder, der Austausch der Eltern untereinander, vielleicht sei man mit den Umständen in der Kita unzufrieden gewesen, womöglich wurden die Kinder suggestiv befragt."

Ohne Zweifel geschehen solche widerlichen Fälle (wenngleich kaum mit Drei- bis Sechsjährigen als "Täter"). Aber es gibt offenkundig auch gelegentlich unhaltbare Vorwürfe, die bloß auf den ersten Blick stichhaltig erscheinen, in die sich jedoch viele hineinsteigern. Schwappt erst, gerade bei Prominenten, die öffentliche Empörungswelle über den Beckenrand, fällt es immer schwerer, darüber unvoreingenommen zu urteilen. Will heißen: Man muss stets ganz genau hinschauen und sollte sich nicht von Medienberichten kirre machen lassen. Der Voyeurismus der Öffentlichkeit ist der Sache nämlich selten dienlich.


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[1] Der Tagesspiegel vom 20.12.2015
[2] Spiegel-Online vom 31.12.2015
[3] FAZ.Net vom 04.08.2015
[4] Fachhochschule Dortmund, PDF-Datei mit 31 kb
[5] Wikipedia, Nippelgate
[6] n-tv vom 11.12.2013
[7] Stern.de vom 31.10.2015
[8] Wikipedia, Wormser Prozesse
[9] Frankfurter Rundschau vom 05.11.2015
[10] Süddeutsche vom 12.06.2015
[11] Süddeutsche vom 24.11.2015