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08. Januar 2016, von Michael Schöfer
Die rote Linie wurde überschritten


"Die Wahrheit, egal wie schrecklich sie sein mag, ist auf lange Sicht nie so gefährlich wie eine Lüge", war das Motto von Ben Bradlee, dem legendären Chefredakteur der Washington Post, unter dessen Verantwortung die Watergate-Affäre aufgedeckt wurde. Anders ausgedrückt: Es ist kontraproduktiv, sich selbst und anderen etwas vorzumachen. Man muss vielmehr den Tatsachen ins Auge sehen. Dies gilt in jeglicher Hinsicht.

Nach den schlimmen Vorfällen in Köln, Hamburg und Stuttgart (massenhafte sexuelle Übergriffe auf Frauen) habe ich mich mehr als einmal gefragt: War es richtig, für die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen zu plädieren? Lag ich falsch und hatten die recht, die seit langem davor gewarnt haben? Es gehört zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme, darauf eine aufrichtige Antwort zu geben. Aber eine Antwort, die sich auf die Ratio stützt. Keine, die lediglich Emotionen bedient.

Einerseits bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass Pauschalierungen Unfug sind. Mit dem Mob, der Flüchtlingsunterkünfte in Brand setzt oder sogar auf sie schießt, möchte ich ja ebenso wenig in einen Topf geworfen werden. Das sind die, nicht ich! Insofern ist auch der Kölner Mob nicht repräsentativ für alle Migranten. Die Rechtsordnung, und das ist ein fundamentales Prinzip unserer Demokratie, sieht die Verantwortlichkeit allein beim Individuum. Eine Kollektivhaftung, die Verantwortung einer Gruppe für Handlungen eines oder mehrerer ihrer Mitglieder, darf es nicht geben. Das heißt: Nur die sind wirklich schuld, die sich in Köln und andernorts danebenbenommen haben. Wer jetzt undifferenziert alle Flüchtlinge in einen Topf wirft, ist auf dem Holzweg.

Andererseits kann keine Gesellschaft derartige Straftaten dulden. Wir müssen die Täter ermitteln, konsequent bestrafen und gegebenenfalls auch ausweisen. Sollten sich solche Übergriffe wiederholen, wird sich die Situation hierzulande bestimmt dramatisch ändern, weil dann selbst Wohlmeinende von ihrer bisherigen Haltung abrücken. Der Standpunkt, man müsse Flüchtlinge aus humanitären Gründen bei uns aufnehmen, wird in diesem Fall rasch an Akzeptanz verlieren. Bei einer erneuten Überschreitung der roten Linie drohen diejenigen Oberwasser zu bekommen, die auf eine differenzierte Betrachtung ohnehin keinen Wert legen. Das muss allen klar sein, vor allem den Flüchtlingen selbst.



Wer beharrlich gegen Gesetze verstößt, verwirkt in meinen Augen sein Aufenthaltsrecht. Schließlich reden wir hier nicht über Bagatelldelikte. Ausreden sind zwecklos, denn es gilt: Wer in einem Land als Gast aufgenommen wird, hat sich entsprechend zu benehmen. Es ist absolut inakzeptabel, wenn Frauen auf unseren Straßen nicht mehr sicher sind. Die Bevölkerung wird das ungeachtet der Fluchtgründe (Bürgerkrieg, politische Verfolgung) keinesfalls tolerieren. Und das vollkommen zu Recht.

Dennoch, es war kein Fehler, in Deutschland Flüchtlinge aufzunehmen. Bislang jedenfalls. Und ich kann nur hoffen, dass sich diese Haltung am Ende nicht als tragischer Irrtum erweist. Falls doch, kann man sich in anderen Ländern anschauen, was daraus folgt. Negativbeispiele gibt es ja mehr als genug.