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29. Januar 2016, von Michael Schöfer
Das Ganze erst einmal zu Ende denken


Das beschämende Herumreichen der Verantwortung in der EU nimmt kein Ende. Früher hat sich Deutschland Asylbewerber mit dem Dublin-Verfahren geschickt vom Hals gehalten, denn diese mussten in dem EU-Mitgliedstaat Asyl beantragen, den sie zuerst betraten. Sehr bequem für Deutschland, das außer der Nordsee keine EU-Außengrenze hat. Unter der Wirtschaftskrise und dem Bürgerkrieg in Syrien ist das System kollabiert, weil die Mittelmeeranrainer der EU den Zustrom nicht mehr bewältigen konnten, die Flüchtlinge werden deshalb seit Monaten nach Nord- und Mitteleuropa durchgereicht. Für eine Gemeinschaft mit 508 Millionen Einwohnern wären ein oder zwei Millionen Menschen aus den Krisengebieten kein Problem, aber aufgrund mangelnder Solidarität sind viele Mitgliedstaaten nicht dazu bereit, den Zustrom anteilmäßig zu verteilen und Flüchtlinge aufzunehmen.

Jetzt soll die Sicherung der EU-Außengrenzen die Lösung bringen: "Die Regierung in Athen müsse ihre 'Hausaufgaben' machen und die Außengrenzen besser sichern, forderte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). 'Schon in den nächsten Wochen brauchen wir eine nachhaltige, spürbare und klare Reduzierung der Zahl der Flüchtlinge nach Europa und nach Deutschland.' (…) Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner erklärte es für einen 'Mythos', dass die Grenze nicht zu sichern sei. Sie plädierte für Konsequenzen: 'Wenn es nicht gelingt, die europäischen Außengrenzen - sprich die türkisch-griechische Grenze - zu sichern, dann wird sich die Schengen-Außengrenze Richtung Mitteleuropa bewegen.'" [1] Die griechische Marine zähle zu den stärksten in Europa, betonte die ÖVP-Politikerin noch.

Wie darf man sich die Sicherung der EU-Außengrenze konkret vorstellen? Da fahren also Flüchtlinge in seeuntüchtigen Booten von der türkischen Küste auf die griechischen Inseln zu. Wie verhindert dann die laut Mikl-Leitner "starke griechische Marine", dass Flüchtlinge den Boden der EU betreten? Die Schlauchboote physisch ans türkische Festland zurückdrängen? Sie durch schnelles Vorbeifahren zum Kentern bringen und dabei Ertrinkende bewusst in Kauf nehmen? Oder soll die Marine etwa auf Flüchtlingsboote schießen? Die Grenze wäre in diesem Fall zweifellos gesichert, bloß um welchen Preis! Das kann man daher alles vergessen, derartige Forderungen sind offenkundig wenig durchdacht.

Hält man sich wie ehedem strikt ans Dublin-Verfahren, sind Griechenland und Italien total überfordert, weil sie den Zustrom nicht allein bewältigen können. Verschiebt man mangels Aufnahmebereitschaft die Schengen-Grenzen in Richtung Mitteleuropa und zieht dort Zäune hoch, stauen sich die Flüchtlinge auf der Balkan-Route. Auch dann haben letztlich Griechenland und Italien die Hauptlast zu tragen, weil die Balkan-Staaten daraufhin bestimmt ebenfalls die Grenzen dichtmachen. Nehmen wir an, die südeuropäischen EU-Mitgliedstaaten kollabieren - ist die Situation dann besser, nur weil keine Flüchtlinge mehr nach Österreich und Deutschland kommen? Kaum anzunehmen. Von den Auswirkungen auf die Wirtschaft ganz zu schweigen. Nicht immer ist das scheinbar Naheliegende auch praktikabel respektive von Vorteil. Es wäre deshalb äußerst hilfreich, das Ganze erst einmal zu Ende zu denken, bevor man populistische Forderungen erhebt.

Ohne Kooperation mit der Türkei (CSU aufgepasst: genau das ist der Kurs von Angela Merkel) wird die Sicherung der EU-Außengrenze scheitern. Es sei denn, man greift zu Maßnahmen, die unter rechtlichen und humanitären Gesichtspunkten äußerst fragwürdig sind. Soll die Europäische Union tatsächlich den Friedensnobelpreis zurückgeben und Gewalt anwenden? Das sagen de Maizière und Mikl-Leitner zwar nicht ausdrücklich, aber so könnte man ihre Aussagen interpretieren. Jedenfalls wäre das die logische Folge, darüber muss man sich im Klaren sein. Wenn sich die Kooperation mit der Türkei zerschlägt und auch die Aufnahmebereitschaft innerhalb der EU nicht spürbar ändert, wird es allerdings zwangsläufig zu einer härteren Gangart kommen. Der politische Druck steigt nämlich mehr und mehr, Deutschlands Aufnahmekapazität ist selbst bei größtem Wohlwollen keineswegs unbegrenzt. Ob uns dann damit gedient ist, steht auf einem anderen Blatt.

Resümee: Manchmal ist es klug, eine kleinere Malaise auszuhalten, um eine größere Katastrophe zu vermeiden.

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[1] Süddeutsche vom 26.01.2016