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30. Januar 2016, von Michael Schöfer
Kein Schießbefehl, bloß Schusswaffengebrauch


Die Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, will den Flüchtlingszustrom notfalls mit Waffengewalt unterbinden. Deutschland dürfe Zurückweisungen nicht scheuen, diese müssten "notfalls auch mit Grenzsicherungsanlagen durchgesetzt werden". Wenn Flüchtlinge über den Grenzzaun klettern, habe sie die Polizei daran zu hindern. Ein Grenzpolizist "muss den illegalen Grenzübertritt verhindern" und dabei "notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen. So steht es im Gesetz." Auf Nachfrage, welches Gesetz einen Schießbefehl enthalte, erwidert sie treuherzig: "Ich habe das Wort Schießbefehl nicht benutzt." [1] Nein, Petry fordert keinen Schießbefehl, sondern bloß den Schusswaffengebrauch. Natürlich nur im Notfall, versteht sich. Der nordrhein-westfälische AfD-Landesvorsitzende Marcus Pretzell ist der gleichen Meinung: "Die Verteidigung der deutschen Grenze mit Waffengewalt als Ultima Ratio ist eine Selbstverständlichkeit." [2] "Ich sehe das ganz genauso", sagt Alexander Gauland, Vizechef der Bundespartei. [3] Die AfD - eine Partei der Schießwütigen?

Ist das wirklich so, darf die Polizei gegen Flüchtlinge tatsächlich Schusswaffen einsetzen? Rechtsgrundlage des Schusswaffengebrauchs an der Grenze ist das "Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes" (UZwG). (Die Grenzsicherung fällt in die Zuständigkeit der Bundespolizei.) Darin heißt es in § 11: Vollzugsbeamte "können im Grenzdienst Schußwaffen auch gegen Personen gebrauchen, die sich der wiederholten Weisung, zu halten oder die Überprüfung ihrer Person oder der etwa mitgeführten Beförderungsmittel und Gegenstände zu dulden, durch die Flucht zu entziehen versuchen."

Oberflächlich betrachtet haben Petry, Pretzell und Gauland recht. Allerdings dürfen Schusswaffen "nur gebraucht werden, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges erfolglos angewendet sind oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen. (...) Zweck des Schußwaffengebrauchs darf nur sein, angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Es ist verboten, zu schießen, wenn durch den Schußwaffengebrauch für die Vollzugsbeamten erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden". Und gegen eine Menschenmenge dürfen Schusswaffen "nur dann gebraucht werden, wenn von ihr oder aus ihr heraus Gewalttaten begangen werden oder unmittelbar bevorstehen und Zwangsmaßnahmen gegen einzelne nicht zum Ziele führen oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen". (§ 12 UZwG) Ansonsten erlaubt das Gesetz in § 10 den Schusswaffengebrauch gegen Personen nur in eng begrenzten Fällen, die aber allesamt auf die von der AfD unterstellte unerlaubte Einreise (§ 14 Aufenthaltsgesetz) nicht zutreffen.

Darüber hinaus muss der Schusswaffengebrauch selbstverständlich stets verhältnismäßig sein. "Auch wenn die in den §§ 11 ff. UZwG umschriebenen Voraussetzungen für den Schußwaffengebrauch im Grenzdienst erfüllt sind, darf nicht ohne weiteres auf sich der Kontrolle entziehende Personen geschossen werden. Der Beamte muß vor dem Einsatz der Schußwaffe die in der jeweiligen Situation auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit und der körperlichen Unversehrtheit der Fliehenden unter sorgfältiger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeneinander abwägen", urteilte der Bundesgerichtshof. "Wird auf eine Person geschossen, so ist dies als besonders schwerer Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu werten. Der mit Verfassungsrang ausgestattete (...) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, von an sich gesetzlich zugelassenen Zwangsmaßnahmen abzusehen, wenn ein zu erwartender Schaden erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht. (…) Ein Ermessensfehlgebrauch und damit rechtswidrig wäre es, wenn der Beamte eine solche den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtende Abwägung fehlerhaft oder gar nicht vornimmt, etwa auf einen seiner Anhalteverfügung nicht nachkommenden Grenzgänger schießt, ohne geprüft zu haben, ob die ihm bekannten Gesamtumstände auf eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit hindeuten, wenn der Grenzgänger unkontrolliert entkommt. Je gefährlicher der Schuß ist, desto höher muß die Gefahr sein, deren Abwehr er begegnen soll." [4]

Das Gesetz und der BGH sprechen wohlgemerkt nur von zu kontrollierenden Personen. Ob der Schusswaffengebrauch auch zur Verhinderung der bloßen illegalen Einreise statthaft ist, darf bezweifelt werden, selbst wenn Flüchtlinge dabei einen Grenzzaun überwinden. Nach den vom BGH formulierten Grundsätzen dürfte der Schusswaffengebrauch in so einem Fall kaum verhältnismäßig sein. Hier Asyl zu beantragen ist schließlich keine "erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit", sondern vielmehr ein Grundrecht. Schüsse an Grenzsicherungsanlagen gab es übrigens hierzulande zuletzt auf dem Hoheitsgebiet der früheren DDR, die Bundesrepublik hatte solche bislang nicht nötig, was hoffentlich auch so bleibt.

Flüchtlinge sind von der Genfer Flüchtlingskonvention geschützt. Danach darf ein Flüchtling, wenn er anschließend Asyl beantragt, für den illegalen Grenzübertritt weder bestraft (Artikel 31) noch zurückgewiesen respektive ausgewiesen werden, sofern sein Leben und seine Freiheit bedroht sind (Artikel 33). Dies gilt auch dann, wenn sogenannte Kettenabschiebungen drohen. "Die Frage der 'Kettenabschiebung' (oder Weiterschiebung) stellt sich, wenn eine von Misshandlung bedrohte Person nicht direkt in den potentiellen Verfolgerstaat, sondern in einen Drittstaat (Zwischenstaat) abgeschoben wird und dort die Gefahr der Weiterschiebung in den Verfolgerstaat besteht." [5] So sieht das jedenfalls der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

Das Asylrecht ist zudem im Grundgesetz (Artikel 16 und 16a) sowie in der EU-Grundrechtecharta (Artikel 18) verankert. Und "zum Recht auf Asyl gehört das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren", betont Hendrik Cremer, wissenschaftlicher Leiter beim Deutschen Institut für Menschenrechte. [6] Das EU-Asyl- und Flüchtlingsrecht enthält überdies "keine Regelungen (…), die eine zahlenmäßige Begrenzung der Aufnahme von international Schutzsuchenden vorsehen", sagt der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in einem Gutachten. [7]

Die AfD will suggerieren, der Zustrom von Flüchtlingen könne notfalls mit Waffengewalt gestoppt werden, schließlich würde es das Gesetz so erlauben. Das soll heißen: "Wir sind keine Radikalen, sondern lediglich gesetzestreue Bürger." Alle sind total entrüstet, wie man überhaupt auf den Gedanken kommen kann, der AfD Radikalität zu unterstellen. (Achtung: Ironie!) Doch die Interpretation der Rechtspopulisten ist falsch. Die Aussage bedient einzig und allein die Ressentiments der AfD-Anhänger, auf juristische Feinheiten kommt es Petry dabei offenbar gar nicht an.

Eine Partei, die so argumentiert, ist gefährlich. Noch drastischer formuliert es Andre Schulz, vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK): "Die AfD lässt mehr und mehr ihre Maske fallen und zeigt immer deutlicher ihr undemokratisches, ihr rechtes Gesicht. Dieses rechtspopulistische Menschenbild der AfD lässt einen erschaudern und sollte jedem klar denkenden Menschen eine Warnung sein: Wer AfD-Wähler oder Sympathisant ist, macht sich zum Steigbügelhalter der Nazis." [8] Wohin das führen kann, erleben wir derzeit in Polen, wo die mit absoluter Mehrheit regierende PiS (Recht und Gerechtigkeit) momentan den Versuch unternimmt, sich die Justiz und die Medien untertan zu machen. Und das ist erst der Anfang. Rechtspopulisten sind eine Gefahr für die Demokratie, weil man nicht sicher sein kann, dass sie im Falle der Machtübernahme die demokratischen Prinzipien beachten. Bestenfalls endet das Ganze in einer "gelenkten Demokratie" à la Putin. Und schlimmstenfalls landen wir in einer Diktatur.

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[1] Mannheimer Morgen vom 30.01.2016
[2] Die Zeit-Online vom 01.11.2015
[3] Handelsblatt vom 02.11.2015
[4] BGH, Urteil vom 26.10.1988, 3 StR 198/88
[5] Oliver Thurin, Der Schutz des Fremden vor rechtswidriger Abschiebung, PDF-Datei mit 533 kb
[6] Frankfurter Rundschau vom 17.10.2015
[7] tagesschau.de vom 20.12.2015, PDF-Datei mit 339 kb
[8] Handelsblatt a.a.O.

Nachtrag (31.01.2016):
Die AfD-Vize Beatrix von Storch befürwortet ebenfalls den Schusswaffengebrauch gegen Flüchtlinge - und das sogar gegen Frauen und Kinder. [9] § 12 Abs. 3 UZwG verbietet das jedoch klar und deutlich: "Gegen Personen, die sich dem äußeren Eindruck nach im Kindesalter befinden, dürfen Schußwaffen nicht gebraucht werden." Vielleicht sollten sich die AfD-Funktionäre erst einmal sachkundig machen, bevor sie solch abstruse Forderungen in die Welt hinausposaunen. Alte Juristenweisheit: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Aber vielleicht ist das bei dieser Partei schon zu viel verlangt. Und die wollen Deutschland regieren? Unserem Land könnte nichts Schlimmeres passieren!

[9] tagesschau.de vom 31.01.2016