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| Impressum 27. Februar 2016, von Michael Schöfer Ein jämmerliches Schauspiel Ist diesem Europa noch zu helfen? Greifen wir einmal das stärkste Land der EU heraus: Deutschland. Es strotzt nur so vor Kraft - zumindest äußerlich. Die Inflationsrate ist niedrig (2015: +0,3 %), die Wirtschaft wächst (2015: +1,7 %), die Exporte boomen (2015: +6,4 % gegenüber dem Vorjahr, Außenhandelsüberschuss 247,8 Mrd. Euro), die Reallöhne steigen (2015: +2,5 %), die Zahl der Erwerbstätigen erreicht Rekordwerte (IV. Quartal 2015: 43,428 Mio.), die Arbeitslosigkeit sinkt (Januar 2016: 2,92 Mio. = -3,7 % zum Vorjahresmonat) und der Staat (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherung) erwirtschaftet Überschüsse (2015: 19,4 Mrd. Euro). Eine Bilanz, für die man in den zurückliegenden Jahrzehnten jedem Regierungschef ein weithin sichtbares Denkmal gesetzt hätte. Dennoch scheint dieses Land aus den Fugen zu geraten. Die Unionsparteien, bei der letzten Bundestagswahl mit 41,5 Prozent knapp an der absoluten Mehrheit vorbeigeschrammt (310 von 631 Mandaten), stehen momentan in den Umfragen bundesweit irgendwo zwischen 32,5 und 37 Prozent. Noch schlimmer: Im einstigen Stammland Baden-Württemberg, wo am 13. März Landtagswahlen stattfinden, sind Winfried Kretschmanns Grüne mit 30 Prozent genauso stark wie die CDU unter Guido Wolf. [1] In Rheinland-Pfalz scheint der CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner der bereits zum Greifen nahe Wahlsieg allmählich zwischen den Fingern zu zerrinnen. Panik bricht aus: Guido Wolf (CDU) beschwert sich darüber, dass Winfried Kretschmann (Grüne) die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ausdrücklich lobt. Merkel solle sich von ihrem grünen "Stalker" distanzieren, fordert der Spitzenkandidat. Zustimmung der Konkurrenz für die eigene Parteivorsitzende ist unerwünscht? Wann hat es das je gegeben? Früher hätte man sich darüber riesig gefreut und feixend den Wahlsieg eingefahren, doch die Verhältnisse haben sich geändert. Und warum das alles? Wegen des Zustroms von Flüchtlingen und der fremdenfeindlichen AfD, die in Umfragen bei ungefähr 10 Prozent liegt. Gewiss, es ist hierzulande nicht alles Gold, was glänzt: 2014 lebten 12,5 Mio. Menschen (= 15,4 % der Bevölkerung) unterhalb der Armutsgrenze (weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens), die Arbeitslosigkeit ist angesichts der florierenden Wirtschaft noch viel zu hoch, in den Ballungsräumen fehlt bezahlbarer Wohnraum - aber das wäre bei gutem Willen und energischem Zupacken bestimmt zu bewältigen. 10 oder meinetwegen 15 Prozent für die AfD - na und? Das bedeutet schließlich eine Mehrheit von rund 80 Prozent für die demokratischen Parteien. Sicherlich beunruhigend, aber noch lange kein Weltuntergang. Guido Wolf mag beklagen, dass der Südwest-CDU nach dem Tsunami 2011 nun erneut eine Welle (die Flüchtlingswelle) das Wahlergebnis verhagelt. Schlimm für jemand, der gerne Ministerpräsident wäre. Aber CDU, Grüne, SPD und FDP kommen derzeit in Umfragen zusammen auf 82 Prozent der Stimmen. Dessen ungeachtet hat man den Eindruck, als würden demnächst Pegida und AfD die Macht übernehmen. Es kommt jetzt darauf an, die Politik zu ändern. Und zwar dort wo es notwendig ist, beim Wohnungsbau beispielsweise. Das, was kurz nach dem Krieg der ungleich ärmeren Bundesrepublik gelang, bis Mitte der siebziger Jahre wurden Jahr für Jahr rund eine halbe Million Wohnungen gebaut, soll uns nun misslingen? [2] Nur dann, wenn wir wie eine Maus starr vor Schreck auf die Schlange blicken. Das heißt: Beschlüsse fassen, Entscheidungen treffen, unbürokratisch handeln - und sich nicht bloß vor dem nächsten Umfrageergebnis fürchten. Das Gleiche gilt für Europa. Vielen EU-Mitgliedstaaten geht es zugegebenermaßen erheblich schlechter als uns Deutschen. Doch was erleben wir? Anstatt die Flüchtlinge gerecht unter den 28 Mitgliedstaaten mit ihren 508 Mio. Einwohnern zu verteilen, triumphiert der nationale Egoismus. Solidarität ist offenbar eine Einbahnstraße: Polen plädiert aus Angst vor Russland für eine Stärkung der Nato-Ostflanke, zugleich wehrt man sich vehement gegen die EU-Flüchtlingsquoten. Lieber baut man auf der berühmt-berüchtigten Balkan-Route Zäune, die Griechenland binnen kurzem zum Kollabieren bringen könnten. Sollen die 10 Mio. Griechen das bewältigen, was den übrigen 498 Mio. Europäern zuviel ist? Manchmal glaubt man, in ein Tollhaus geraten zu sein: Die EU-Kommission fordert vom ohnehin am Rande der Pleite entlangbalancierenden Griechenland größere Anstrengungen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise und beim Schutz der EU-Außengrenzen, gleichzeitig soll Athen die rigiden Sparvorgaben vollständig umsetzen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini fordert die Türkei auf, Zehntausende vor den Bombenangriffen flüchtende Syrer ins Land zu lassen - also zu etwas, wozu die Europäer selbst nicht bereit sind. Ist das Dummheit, Realitätsverlust oder Zynismus? Vielleicht alles drei zusammen. Jedenfalls treibt man so die Europäische Gemeinschaft auseinander. Ein jämmerliches Schauspiel. ---------- [1] Sonntagsfrage Baden-Württemberg, Forsa vom 26.02.2016 [2] siehe Risiken und Chancen vom 05.09.2015 |