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08. März 2016, von Michael Schöfer
Es gibt keine demokratische Definition von "Volksgemeinschaft"


Die Presse- und Meinungsfreiheit schützt in bestimmtem Ausmaß sogar Provokationen. "Auch überspitzte Kritik fällt grundsätzlich in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit", sagt das Bundesverfassungsgericht. [1] Man tritt Hardy Prothmann vom Rheinneckarblog bestimmt nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass Provokationen gewissermaßen zu seinem Geschäftsmodell gehören, sie verschaffen ihm die gewünschte Aufmerksamkeit. Nicht ausschließlich, aber zumindest gelegentlich.

Allerdings gibt es Provokationen, die man als seriöser Journalist unterlassen sollte, weil sie genau besehen widersinnig sind. Angesichts der Wahlerfolge der AfD bei den Kommunalwahlen in Hessen schreibt Prothmann: "Die AfD gibt dem deutschen Volk keine Stärke, sondern schwächt das Land enorm. Denn man 'bekämpft' oder ordnet äußere Krisen niemals, indem man innere schürt. Wer sich so verhält, agiert verantwortungslos und schädlich für die Volksgemeinschaft. Sie haben richtig gelesen, liebe Leserin und Leser. Das ist das erste Mal, dass Sie in einem redaktionellen Artikel beim Rheinneckarblog das Wort 'Volksgemeinschaft' gelesen haben. Ich habe mich als Redaktionsleiter entschlossen, das Wort ab sofort zu besetzen, um es nicht anderen zu überlassen." [2] Unter "Volksgemeinschaft" versteht Prothmann "alle, die wir hier leben".

Doch dafür gibt es bereits einen anderen Begriff: Staatsvolk. Normalerweise versteht man unter dem "Staatsvolk" Menschen mit der gleichen Staatsangehörigkeit, es umfasst per definitionem alle Staatsbürger, unabhängig von ihrer Herkunft oder ethnischen Zugehörigkeit. So sieht das jedenfalls unsere Verfassung. "Entscheidend für die Zugehörigkeit zum Deutschen Volk im Sinne des bundesdeutschen Grundgesetzes ist primär der rechtliche Status als Staatsbürger und nicht die Zugehörigkeit zu einem Volk oder Volksstamm, etwa im ethnischen oder soziologischen Sinne." [3] Anders ausgedrückt: Ein Deutscher ist ein Deutscher, wenn er die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Punkt. Weitere Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um zum Staatsvolk zu gehören, sind nicht notwendig. Und unter "Bevölkerung" subsumiert man alle Menschen, die - gleich welcher Staatsangehörigkeit - auf dem Staatsgebiet wohnen.

Der Terminus "Volksgemeinschaft" wurde hingegen seit jeher ethnisch definiert. Im Gegensatz zur pluralistischen Gesellschaft suggeriert er die Einheit des Volkes, charakteristisch hierfür war die Blut- und Boden-Ideologie. Wer sich nicht auf die gemeinsame Abstammung berufen konnte, blieb ausgeschlossen. In der Nazi-Zeit war die "Volksgemeinschaft" das Fundament der Staatsideologie, die Fiktion der "arischen Rasse" bildete die Grundvoraussetzung für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk. "Volksgemeinschaft" verstand man darüber hinaus als politische Gesinnungsgemeinschaft, die das Bekenntnis zur Weltanschauung des Nationalsozialismus erforderte. Die Rassenideologie der Nazis mündete in die berühmt-berüchtigten Nürnberger Gesetze. Danach galt nur der als "Reichsbürger", in dessen Adern "deutsches oder artverwandtes Blut" floss. Juden waren davon bekanntlich von vornherein ausgenommen. Heute vertritt die NPD die Idee einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft". Das sei ein rassistisches Weltbild, hielt ihr das Bundesverfassungsgericht vor, denn in NPD-Schriften und im Internet heiße es etwa, "ein Afrikaner oder Asiate kann nie Deutscher werden", und "Angehörige anderer Rassen bleiben immer Fremdkörper". [4]

Das muss man so ausführlich darstellen, damit alle wissen, welch unseligen Begriff Prothmann besetzen will, um ihn nicht anderen zu überlassen. Das ist jedoch nicht nur gefährlich, weil man sich damit zwangsläufig auf die absurde Rassenideologie der Nazis einlässt, sondern auch vollkommen unsinnig, weil meiner Meinung nach überhaupt keine demokratische Definition von "Volksgemeinschaft" existiert. Mit anderen Worten: Den Terminus "Volksgemeinschaft" kann man den Nazis nicht dadurch wegnehmen, indem man ihn kurzerhand selbst benutzt, die könnten das vielmehr als Zustimmung interpretieren. Zu ihr gehört überdies stets der "Volksfeind", weil innerhalb der "Volksgemeinschaft" kein Platz für Andersdenkende ist. An der "Volksgemeinschaft" klebt mithin der Geruch des Totalitarismus. Dieser kruden Ideologie sollte man deshalb konsequent die demokratische Definition des "Staatsvolkes" entgegensetzen. Es umfasst jeden, der die Staatsangehörigkeit besitzt, und schließt niemanden a priori aus.

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[1] BVerfG, Pressemitteilung Nr. 86/2014 vom 02.10.2014, Beschluss vom 28.07.2014, 1 BvR 482/13
[2] Rheinneckarblog vom 07.03.2016, Das hessische Beben
[3] Wikipedia, Staatsvolk
[4] Wochenblatt vom 03.03.2016