Home
| Archiv | Leserbriefe
| Impressum 08. April 2016, von Michael Schöfer Die Wut auf die Elite steigt Ob früher weniger gelogen und betrogen wurde als heute? Kaum anzunehmen, wenn man die menschliche Natur in Rechnung stellt. Der Homo sapiens ist eben ein unverbesserlicher Egoist, und ohnehin hört beim Geld jede Freundschaft auf. Heute sind die Möglichkeiten unsauberer Geschäfte aufgrund der technologischen Entwicklung und der Deregulierung der Finanzmärkte zweifellos vielfältiger geworden. Dies gilt allerdings ebenso für das Entdeckungsrisiko, wie die erst kürzlich veröffentlichten Panama Papers belegen. Unter Umständen ist es also bloß eine Sache der Wahrnehmung. Betrügereien mögen in früheren Zeiten anders gewesen sein, betrogen wurde aber sicherlich schon immer. Etwas anderes anzunehmen wäre naiv. Dennoch steigt die Wut auf eine Elite, für die angeblich keine Regeln gelten. Es ist wahrlich eine illustre Gesellschaft, die sich da über das Gesetz erhebt: Ministerpräsidenten nutzen offenbar die gleichen Verschleierungstaktiken wie Drogenbarone, Staatspräsidenten bewegen sich auf der gleichen Ebene wie Terroristen, renommierte Banken sind genauso involviert wie schmierige Winkeladvokaten. Und es wird gelogen wie gedruckt: Gestern versicherte uns der britische Premierminister David Cameron noch: "Ich habe keine Aktien, keine Offshore-Stiftung, keinen Offshore- Fonds - nichts in der Art." [1] Heute lesen wir, dass er von einem Offshore-Fonds seines Vaters profitiert hat. "Bis zu seiner Wahl als Premier habe er Aktien des Fonds gehalten, die er allerdings 2010 zum Preis von gut 31.000 Pfund verkauft habe. Den Gewinn habe er ordnungsgemäß in Großbritannien versteuert." [2] Ob das jetzt die ganze Wahrheit ist? Spätestens seit Jan Böhmermanns Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist uns der § 103 StGB (Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten) geläufig. Angesichts der aktuellen Enthüllungen fällt es einem dieser Tage jedoch furchtbar schwer, sich nicht durch unüberlegte Äußerungen strafbar zu machen. Nach Schätzungen des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Gabriel Zucman sollen rund 5.900 Mrd. Euro in Steueroasen angelegt sein - acht Prozent des globalen Vermögens. Drei Viertel davon seien nicht versteuert. [3] Legal, illegal, scheißegal. In Deutschland besitzen laut einer Studie der Bundesbank die reichsten 10 Prozent der Haushalte rund 60 Prozent des gesamten Nettovermögens, die übrigen 90 Prozent teilen sich den Rest. Doch selbst bei Letzteren sind die Unterschiede gewaltig, denn die untere Hälfte verfügt lediglich über 2,5 Prozent des Nettovermögens. [4] Und das, wohlgemerkt, in einem der reichsten Länder der Welt. 2014 betrug die Durchschnittsrente der gesetzlichen Rentenversicherung bei Männern 1.013,42 Euro und bei Frauen 762,11 Euro. [5] Nicht gerade üppig. Zum Vergleich: Das Vermögen der reichsten 10 Prozent beginnt bei 468.000 Euro. Wissen Sie jetzt, wo die wahren Asozialen sitzen? Und warum die Wut über "die da oben" ständig steigt? Wenn jeder ganz normal seine Steuern zahlen würde, könnten wir die gröbsten Ungerechtigkeiten entschärfen. Doch die Politik reagiert quälend langsam. Wenn man sich die Liste derer ansieht, die Briefkastenfirmen ihr Eigen nennen, überrascht das kaum. Kein Wunder, dass sich die Menschen kaum für das "Europa der Eliten" mit seinen dubiosen Freihandelsverträgen (TTIP, Ceta) erwärmen können. Trotzdem scheint sich nichts zu ändern, unentwegt zaubert der "gewaltige, undurchschaubare bürokratische Apparat" (Franz Kafka) neue Tricks aus dem Hut, mit denen man das Volk über den Tisch ziehen will. Dort, wo das Volk abstimmen darf, wie etwa in den Niederlanden, bekommen die Brüsseler Bürokraten eine Abfuhr nach der anderen erteilt. Gerade deshalb lässt man ja das Volk so selten abstimmen. Eine schöne Demokratie (nominell: Volksherrschaft) ist das. Die Mitglieder des Establishments rennen wie die Lemminge völlig unbeirrt in den Abgrund. Wachen die nie auf, fragt man sich unwillkürlich. Wäre es nicht an der Zeit, endlich den permanenten Sozialabbau zu stoppen und sich beispielsweise um bezahlbaren Wohnraum zu bemühen oder die bereits absehbare Altersarmut zu bekämpfen? Was wir brauchen, sind Taten, keine weiteren Lippenbekenntnisse oder von hohlen Phrasen durchtränkte Sonntagsreden. Wer die Wut unterschätzt, wird vielleicht schon bald im einem von Rechtspopulisten regierten Europa erwachen. Polen und Ungarn müssten eigentlich als abschreckendes Beispiel vollkommen ausreichen. ---------- [1] Süddeutsche, Printausgabe vom 07.04.2016 [2] Süddeutsche vom 08.04.2016 [3] Süddeutsche vom 07.04.2016 [4] Focus Money vom 21.03.2016 [5] Bundesregierung vom 18.11.2015, Rentenversicherungsbericht 2015 |