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17. April 2016, von Michael Schöfer
Muss man in dieser Welt zum Zyniker werden?


Die Leute kapieren einfach nicht, wie es in der Politik zugeht. Zynisch nämlich. Man kann trefflich darüber spekulieren, ob Angela Merkel die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge im Nachhinein als schweren Fehler beurteilt oder nach wie vor zu ihrer humanitären Geste steht. Zumindest dürfte sie die Schließung der griechisch-mazedonischen Grenze insgeheim begrüßen, obgleich sie offiziell dagegen ist. Sinkende Flüchtlingszahlen sind in ihrem Fall gleichbedeutend mit einem geringeren politischen Druck. Immerhin haben jetzt zunächst andere das Problem vor der Haustür liegen. Langfristig vielleicht fatal, aber das wird gerne verdrängt.

Dieser Charakterzug ist ja in der Politik weitverbreitet: Das eine zu sagen, aber das andere zu wollen. Nehmen wir zum Beispiel die Finanzminister. Öffentlich sind sie natürlich, wie sie in ihren Schaufensterreden unablässig betonen, strikt gegen anrüchige Steuervermeidung und illegale Steuerhinterziehung. Doch in den berühmt-berüchtigten Hinterzimmern zerbrechen sie sich wohl ziemlich oft den Kopf darüber, wie sie "das scheue Reh" (das Kapital) dennoch schonen können. Da wird ebenfalls vieles ganz anders nach außen transportiert, als man es intern bei der Beratung der Gesetze bespricht. Eine Unterstellung, gewiss, aber eine mit hoher Plausibilität.

In dieser Welt muss man fast zwangsläufig zum Zyniker werden. Oder zum Misanthrop. Wenn ein Politiker vor der Wahl hoch und heilig verspricht, unbarmherzig die Korruption zu bekämpfen, kann man sich in den allermeisten Fällen darauf verlassen, dass er nach der Wahl genauso korrupt ist wie sein Vorgänger. Er wollte eben nur selbst an die Fleischtöpfe. Ein anderes Beispiel: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan soll inzwischen fast 2.000 Menschen wegen Beleidigung angezeigt haben. Sogar Kinder lässt er verfolgen. Aber er hat natürlich kein Problem mit der Meinungsfreiheit, die sei in der Türkei garantiert. Noch ein Beispiel: Gewerkschaften sind offiziell parteipolitisch neutral, machen aber gerne für die ein oder andere Seite Wahlkampf. Heuchelei? Ach, i wo.

Leider fällt das tumbe Volk häufig auf solche Scharlatane herein. Und das nicht bloß in Entwicklungs- oder Schwellenländern, sondern auch in altehrwürdigen Demokratien. Wie viele Positionen hat etwa Hillary Clinton im Laufe ihrer Karriere schon eingenommen? Jede Menge! Vor allem jede Menge unterschiedliche. Nach ihrer Wahl wird sie sich selbstverständlich den Sorgen und Nöten der einfachen Amerikaner widmen, versichert sie nun landauf, landab. Wenn eine Multimillionärin gelobt, sie werde die Armut bekämpfen, sollte man misstrauisch sein. Darauf zu vertrauen, wird erfahrungsgemäß enttäuscht, denn das ist lediglich das, was man halt so sagt, um gewählt zu werden. Als "working class hero" ist sie jedenfalls in meinen Augen absolut unglaubwürdig. Bernie Sanders for President!

Die wichtigste Frage ist: Wem kann man trauen? Antwort: Keinem. Wer Macht besitzt, neigt dazu, sie zu missbrauchen. Ich bin überzeugt, nur wenige würden der Versuchung widerstehen. Deshalb ist die Kontrolle der Mächtigen das A und O. Übrigens keine neue Erkenntnis, Montesquieu (1689-1755) entwickelte daraus den Gedanken der Gewaltenteilung: Legislative, Exekutive und Judikative sollten sich gegenseitig kontrollieren. Sie kanalisiert auch den ewigen Kampf zwischen Veränderungsbereitschaft und Beharrungsvermögen. Radikale Richtungsänderungen sind in Demokratien äußerst selten. Als vierte Gewalt gilt gemeinhin die freie Presse.

Unser Gesellschaftsmodell ist unbestreitbar in einer schweren Krise. Die Fliehkräfte, die die Gesellschaft auseinandertreiben, werden immer stärker. Es ist daher notwendig, die Machtverhältnisse neu auszutarieren, und zwar hin zu größerer Teilhabe der Bevölkerung. Eine Ursache der Krise ist, dass es derzeit offenbar genau in die entgegengesetzte Richtung geht. Anstatt mehr Teilhabe triumphiert der Paternalismus, versinnbildlicht etwa im Brüsseler EU-Moloch. Eine gefährliche Tendenz, weil sie die Verachtung für den Politikbetrieb enorm steigert. Wer die Demokratie retten will, muss sie praktizieren. Und das heutzutage intensiver denn je. Zynisch wäre, den Herrschenden zu unterstellen, es ginge ihnen gar nicht um die Rettung der Demokratie. Nun, wenn das so ist, sind sie zweifellos auf dem besten Weg.