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24. April 2016, von Michael Schöfer
Weitere Rentenkürzung in Sicht


Die Parteien haben die Rentenversicherung als Wahlkampfthema entdeckt. Genauer: die drohende Altersarmut. "Um im Jahr 2030 eine Rente über dem Grundsicherungsniveau zu bekommen, müsste ein Arbeitnehmer nach heutigem Stand 40 Jahre lang ununterbrochen pro Monat mindestens 2.097 Euro brutto verdienen", lautet das Ergebnis einer Prognose des Westdeutschen Rundfunks (WDR). [1] Insgesamt drohe 25,1 Mio. Menschen im Alter bloß eine Armutsrente.

Schuld an der absehbaren Altersarmut sind nicht nur die mickrigen Löhne im Niedriglohnsektor (mittlerweile arbeiten dort fast 25 % aller Beschäftigten), sondern auch die Rentenreform der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder. 2002 wurde das Niveau der Rente bewusst abgesenkt, zum Ausgleich sollten die Arbeitnehmer in die private Altersvorsorge investieren - die Riester-Rente hatte das Licht der Welt erblickt. Profiteure: Vor allem die Versicherungswirtschaft. Leidtragende: Die Arbeitnehmer, die die private Altersvorsorge fortan alleine stemmen mussten (im Gegensatz zur gesetzlichen Rentenversicherung, bei der sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber den Beitrag teilen). Aufgrund der Rentenreform sinkt das Rentenniveau (netto vor Steuern) drastisch, es geht bis zum Jahr 2030 auf 43 Prozent zurück (2002 lag es noch bei 52,9 %). Neben der Versicherungswirtschaft profitierten auch die Unternehmen von der Deckelung des Beitragssatzes, denn zur privaten Altersvorsorge ihrer Beschäftigten leisten sie ja keinen Beitrag.

Doch die Riester-Rente ist, wie nun endlich auch die Politik zugibt, ein Flop. "Die Riester-Rente ist gescheitert", stellt etwa CSU-Chef Horst Seehofer fest. Das sagt neuerdings sogar die SPD, deren Erfinderin. Kritiker hatten dies bereits bei der Einführung der Riester-Rente prophezeit, man hat jedoch nicht auf sie hören wollen. Fakt ist: Die, für die die Riester-Rente unter bestimmten Umständen sinnvoll wäre (Arbeitnehmer mit Niedrigeinkommen), können sie sich oft nicht leisten. Und die, die sich die Riester-Rente leisten können, brauchen sie im Grunde gar nicht. Nice to have, sagen Letztere und nehmen die Zuschüsse des Staates dankbar entgegen. Ökonomen sprechen hierbei von einer Fehlallokation (falsche Verteilung verfügbarer Ressourcen). Außerdem lohnt sich die Riester-Rente häufig nicht. Kritiker monieren nämlich: Um mehr herauszubekommen, als man eingezahlt hat, muss man sehr alt werden. Sie lohne sich allenfalls für Menschen mit vielen Kindern.

2007 wurde obendrein mit den Stimmen der Großen Koalition aus Union und SPD die Anhebung des Renteneintrittsalters beschlossen. Danach erhöht sich die Regelaltersrente schrittweise auf 67 Jahre. Faktisch war das eine Rentenkürzung, weil viele Arbeitnehmer vorher aufhören müssen. Und wer vorzeitig geht, muss bei der Rente Abschläge in Kauf nehmen (sofern er nicht die Rente für besonders langjährig Versicherte in Anspruch nehmen kann). Das durchschnittliche Rentenzugangsalter lag 2014 bei 64,1 Jahren. [2] Die von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und der Jungen Union ins Spiel gebrachte Anhebung der Regelaltersrente auf 70 Jahre ist insofern völlig illusorisch, denn das würde nur eine weitere Rentenkürzung bedeuten, weil viele Arbeitnehmer gar nicht bis 70 arbeiten können. Die Betonung liegt auf "können". Schäuble kalkuliert wohl: Wenn ich weder an der Stellschraube Beitragssatz noch an der Stellschraube Bundeszuschüsse drehen will, bleibt nur die Erhöhung des Rentenalters (= verdeckte Rentenkürzung), um das drastische Absinken des Rentenniveaus zu korrigieren. Zumindest offiziell kann er dann behaupten, etwas gegen die Altersarmut unternommen zu haben. Perfide!

Verschlechterungen bei der Rente werden in der Regel mit der Änderung des demographischen Aufbaus der Bevölkerung gerechtfertigt. Motto: Wir werden immer älter, deshalb müssen wir auch länger arbeiten. Zudem gebe es im Vergleich zu früher weniger Kinder, weshalb die nachwachsende Generation pro Kopf eine größere Anzahl Älterer zu versorgen habe. Doch das ist nichts Neues. Den stärksten Rückgang der Geburtenrate erlebte Deutschland Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts. 1875 brachte jede Frau noch fast fünf Kinder zur Welt,1934 waren es dann bloß noch 1,8 Kinder. "Dieser Fall der Kinderzahlen war wesentlich tiefer als der zweite Geburtenrückgang nach dem Zweiten Weltkrieg" (der sogenannte Pillenknick). [3] Deutschland ist damals nicht zugrunde gegangen. Es spricht also nichts dagegen, dass wir den heutigen demographischen Wandel ebenfalls bewältigen. Angesichts unseres gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes müsste das sogar viel besser gelingen.


Der Pillenknick Ende der sechziger Jahre ist klein im
Vergleich zum Geburtenrückgang vor 100 Jahren [4]


Was den negativen Trend der sinkenden Geburtenrate kompensieren könnte, wäre natürlich die Zuwanderung von Jüngeren aus dem Ausland, was aber bei der Bevölkerung auf Vorbehalte trifft. Oftmals unbeachtet bleibt jedoch die steigende Produktivität. Jeder Nichtproduktive (Kinder, Rentner, Erwerbslose) muss vom produktiven Teil der Bevölkerung versorgt werden. Doch hierbei kommt es weniger auf die Größe des produktiven Bevölkerungsteils an, sondern eher darauf, was dieser erwirtschaftet. Beispiel Landwirtschaft: Anfang des 19. Jahrhunderts waren in Deutschland rund 75 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig, zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es noch 38 Prozent, heute sind es dagegen gerade mal 1,5 Prozent. Ernährte ein Landwirt zu Beginn des 20. Jahrhunderts vier Menschen, sind es heute 131 (ohne Erzeugung aus Auslandsfuttermitteln). Dennoch leiden wir nicht unter einem Mangel an Nahrungsmitteln, vielmehr - wenn man die Entwicklung der Fettleibigkeit berücksichtigt - an einem Überfluss. Grund ist die enorm gestiegene Produktivität, die Erträge sind nämlich trotz des massiven Rückgangs der Produzierenden um ein Vielfaches gewachsen. 2015 lag etwa der Weizen-Ertrag pro Hektar bei 80,9 Dezitonnen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es lediglich 18,5 Dezitonnen. [5] Das ist, bei aller Kritik an der industriellen Landwirtschaft, ein gewaltiger Fortschritt.

Warum sollte das in Bezug auf die Rente anders sein? Das Rentenniveau muss nicht sinken, weil die steigende Produktivität des voraussichtlich schrumpfenden Erwerbstätigenanteils den Unterhalt einer wachsenden Rentnerzahl kompensiert. Jedenfalls potenziell. In Deutschland ist die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen in der Gesamtwirtschaft zwischen 1991 und 2015 um 23 Prozent gestiegen. [6] Der Spielraum ist da, man muss ihn nur nutzen. Bloß auf die Altersstruktur zu schauen und daraus zu folgern, das Rentenniveau müsse zwangsläufig sinken respektive das Renteneintrittsalter stark steigen, führt in die Irre. Nicht zuletzt hat sich die umlagefinanzierte gesetzliche Rente, anders als die kapitalgedeckte private Altersvorsorge, in der Finanz- und Wirtschaftskrise als ziemlich robust erwiesen.

Der Rückgang des Rentenniveaus war politisch gewollt, ist aber keineswegs ökonomisch vorgegeben. Und was politisch gewollt war, kann man auch wieder korrigieren. Ob dazu allerdings ausgerechnet diejenigen in der Lage sind, die uns die drohende Altersarmut eingebrockt haben, wage ich zu bezweifeln. Die private Altersvorsorge war und ist ein Irrweg, hat sich aber wie geplant für die Unternehmen als durchaus lukrativ herausgestellt. Die Gelackmeierten waren die Arbeitnehmer, die die staatliche Förderung der privaten Altersvorsorge auch noch im Wesentlichen selbst finanziert haben (die Lohnsteuer und die Umsatzsteuer sind bekanntlich die größten Einnahmequellen des Fiskus). Und die Heerschar der Lobbyisten wird - wie so oft - alle für sie nachteiligen Änderungen zu verhindern versuchen. Jammern über die Rente werden daher wohl auch künftig vor allem die Rentner.

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[1] WDR vom 20.04.2016
[2] Deutsche Rentenversicherung, Rentenversicherung in Zahlen 2015, Seite 68, PDF-Datei mit 740 kb
[3] Bundeszentrale für politische Bildung, Bevölkerung, Historischer Rückblick
[4] Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Zahlen und Fakten, Fertilität, Abbildungen, Zusammengefasste Geburtenziffer in Deutschland 1871 bis 2013
[5] Wikipedia, Landwirtschaftliche Revolution; Statistisches Bundesamt, Arbeitsmarkt, Erwerbstätige im Inland nach Wirtschaftssektoren und Feldfrüchte und Grünland, Hektarerträge ausgewählter Anbaukulturen im Zeitvergleich sowie Deutscher Bauernverband, Jahrhundertvergleich
[6] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Löhne und Produktivität, Excel-Datei mit 39,4 kb