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05. Mai 2016, von Michael Schöfer
Die verkaufen uns


"Die verkaufen uns", ist das Erste, was mir in puncto TTIP (Transatlantisches Freihandelsabkommen) in den Sinn kommt. Mit "die" ist die EU-Kommission gemeint, die federführend auf Seiten der Europäer das Vertragswerk aushandelt. Und verschachern tut sie uns an die USA. Doch das ist natürlich falsch, denn Handelspolitik war schon von jeher knallharte Interessenpolitik. Genau genommen stehen sich dabei aber keineswegs "die Europäer" und "die Amerikaner" gegenüber, sondern in Wahrheit Interessengruppen, die nicht ausschließlich nach ihrer geographischen Zugehörigkeit festzumachen sind. Die Interessengegensätze gehen vielmehr quer durch alle Länder. Überspitzt formuliert stehen sich hierbei - über die Staatengrenzen hinweg - wie so oft vorrangig "die da oben" und "die da unten" gegenüber. So ist etwa der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) genauso pro TTIP wie sein amerikanisches Pendant National Association of Manufacturers (NAM). In der Bevölkerung sieht die Sache ähnlich aus: In Deutschland glauben laut Umfrage 70 Prozent, dass TTIP eher Nachteile für Deutschland bringe. Lediglich 17 Prozent meinen, TTIP bringe eher Vorteile. [1] In den Vereinigten Staaten sind bloß noch 15 Prozent der US-Bürger für TTIP. [2] Dennoch hält das Establishment hüben wie drüben unbeirrt an TTIP fest.

In Europa befürchten viele Bürgerinnen und Bürger das Aufweichen von Standards für Produkte, Verbraucherschutz und Arbeitsmarkt. Vor allem die privaten Schiedsgerichte, die für den Investorenschutz (ISDS) sorgen sollen, sind ihnen ein Dorn im Auge. Da etabliere sich eine Paralleljustiz, die sich der demokratischen Kontrolle entziehe, beklagen Kritiker. Die Schiedsgerichte verhandeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die Richter sind nicht staatlich bestellt, sondern überwiegend Firmenanwälte aus privaten Anwaltskanzleien, die obendrein ein finanzielles Eigeninteressen an teuren und langwierigen Verfahren hätten, es gibt keine Berufungsinstanz und es können nur ausländische Unternehmen klagen. Staaten und Individuen sind dort gar nicht klagebefugt. Das sei keine unabhängige Justiz, das sei eine Perversion der Rechtsprechung. Beim Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) hat die Kritik gewirkt, anstatt privater Schiedsgerichte soll laut EU-Kommission ein aus fünfzehn Mitgliedern bestehendes ständiges Gericht (CETA-Investitionsgerichtshof) geschaffen werden. Die EU-Kommission und die kanadische Regierung ernennen die Richter, es gibt ein Berufungsgericht und beide Staaten streben ausdrücklich einen ständigen multilateralen Investitionsgerichtshofs an. [3] Die Bedenken sind damit zum Teil ausgeräumt. Zumindest scheinbar. An der eingeschränkten Klagebefugnis und der Angst vor Milliardenklagen ändert sich dadurch freilich nichts, weshalb manche von einer Mogelpackung mit Pseudogerichten sprechen. Generell stellt sich zu Recht die Frage: Warum soll die bereits bestehende ordentliche Gerichtsbarkeit für Handelsstreitigkeiten nicht ausreichen? Bekanntlich sind weder Kanada, die USA noch Deutschland Bananenrepubliken.

Nun wurden kürzlich die TTIP-Papiere geleakt, jetzt hat die Öffentlichkeit erstmals ungefilterten Einblick in den Stand der Verhandlungen. "Klaus Müller, Vorstand des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, sagte in einer ersten Reaktion, in den Texten bestätigten sich 'so ziemlich alle unsere Befürchtungen bezogen auf das, was die US-Amerikaner bei TTIP in Bezug auf den Lebensmittelmarkt erreichen wollen'." [4] Die US-Regierung will auch "dem europäischen Gesetzgeber bei Eingriffen in die Wirtschaft ein enges Korsett anlegen. Das lässt sich aus mehreren Vorschlägen ablesen. So solle die EU Verfahren einführen, um 'die Notwendigkeit für eine Verordnung' und 'Kosten und Nutzen von Alternativen' zu erwägen. 'Falls sich die Amerikaner durchsetzen, würde das europäische Gesetzgebung in Umwelt- und Verbraucherfragen erheblich erschweren', urteilt Markus Krajewski, Professor für Öffentliches Recht in Erlangen." [5] Im September 2015 erweckte die EU-Kommission den Eindruck, die private Schiedsgerichtsbarkeit sei bei TTIP vom Tisch. EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström schlug ein "System der Investitionsgerichte" vor, das angeblich "demokratischen Prinzipien und öffentlicher Kontrolle" unterliege. "Die Bundesregierung unterstützt den Vorschlag. Berlin glaubt, dass auch eine Mehrheit der 28 EU-Staaten die Idee mitträgt. Es sei ein großer Fortschritt, dass das alte System von privaten Schiedsgerichten vom Tisch sei: 'Es ist tot', sagte Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig." [6] Doch die Aussage, die Schiedsgerichte seien tot, war offenbar falsch. Aus den geleakten TTIP-Papieren geht nämlich hervor, dass darüber noch gar nicht verhandelt wurde. Bislang lehnten die USA alle Vorschläge, einen Handelsgerichtshof einzurichten, strikt ab. "Eine solche Instanz kommt nicht infrage. Die USA werden keine Einmischung in ihre nationale Souveränität dulden." [7] Ausweislich der Verhandlungspapiere hat sich daran überhaupt nichts geändert, die USA wollen weiterhin keine öffentlichen Richter und keine Berufungsinstanz.

Cecilia Malmström spricht dagegen von einem "Sturm im Wasserglas". Bei den TTIP-Papieren handle es sich um "konsolidierte Verhandlungstexte", die lediglich den Verhandlungsstand wiedergeben. Über Ergebnisse sage dies noch nichts. Das mag zutreffen, aber die fast schon pathologisch zu nennende Geheimhaltungspolitik der EU-Kommission macht misstrauisch. Wie soll sich die Öffentlichkeit am demokratischen Willensbildungsprozess beteiligen, wenn sie keine Informationen über das bekommt, was die EU-Kommission mit den USA aushandelt? Normalerweise wird ja bei Gesetzen erst einmal ein Entwurf vorgelegt, der dann anschließend in der Öffentlichkeit wochen- oder mitunter sogar monatelang diskutiert wird. Es gilt das Strucksche Gesetz, wonach kein Gesetz so aus dem Parlament herauskommt, wie es eingebracht worden ist. Beim Freihandelsabkommen, das einem weitreichenden Eingriff in das Leben der Bürgerinnen und Bürger gleichkommt, dürfen sich jedoch selbst Europaabgeordnete nur unter völlig absurden Bedingungen Einblick verschaffen. Und das überdies erst seit kurzem:

"Bevor ein Europa-Abgeordneter in den TTIP-Leseraum darf, muss er sein Mobiltelefon und seine Tasche abgeben. Dann muss er schriftlich versichern, dass er nichts weitergeben wird von dem, was er jetzt gleich einsehen darf. Darüber sprechen ist ohnehin verboten. Die Tür zum fensterlosen Lesezimmer im Europäischen Parlament in Brüssel ist mit einem Eingangscode gesichert. Im Raum selbst gibt es einen Tresor - aus diesem holt ein Parlamentsmitarbeiter die Dokumente. Der Abgeordnete bekommt die von ihm angeforderten TTIP-Verhandlungstexte und dazu noch gekennzeichnetes Papier für seine Notizen. Diese Blätter tragen Ordnungszahlen und den Namen des Volksvertreters, also zum Beispiel: 'Bütikofer, Seite 17'. Abschreiben darf der Abgeordnete den vorliegenden Text nicht, darauf achtet der Parlamentsmitarbeiter, der ihm die ganze Zeit gegenüber sitzt." [8] Den gleichen Bedingungen unterliegen Bundestagsabgeordnete: Der Zwei-Stunden-Termin im Leseraum des Bundeswirtschaftsministeriums muss in der Woche zuvor vereinbart werden, Abgabe des Mobiltelefons, keine Kopien, keine Abschriften, fotografieren verboten, absolutes Schweigegebot. "Sie dürfen also keine Experten fragen, wie das zu beurteilen ist, was sie da gelesen haben. Sie dürfen niemanden um Hilfe bitten, der vielleicht besser Englisch kann als sie - die Unterlagen sind nicht übersetzt. Sie dürfen nicht ihre Mitarbeiter informieren. Und schon gar nicht die Presse oder die Bürger." [9] Vorher gab es bloß einen Leseraum in der US-Botschaft am Brandenburger Tor. Und das auch nur für Regierungsmitglieder. Bundestagsabgeordnete (= Volksvertreter) hatten keinen Zutritt.

Nein, liebe Leserinnen und Leser, wir befinden uns mitnichten in Nordkorea oder in China, sondern mitten in der vermeintlich demokratischen Europäischen Union. Trotzdem wird hier die Demokratie mit Füßen getreten und der öffentliche Diskurs mit drakonischen Maßnahmen unterbunden. Ist es angesichts dessen verwunderlich, wenn sich der Widerstand gegen TTIP verstärkt, wenn das Misstrauen kontinuierlich wächst? Dabei ist Freihandel an sich noch nicht einmal verwerflich. Sofern die Bedingungen stimmen, kann er sogar segensreich sein. Doch dieses "Europa der Eliten", das eklatante Demokratiedefizite aufweist, stößt viele ab. Wie eingangs erwähnt, der BDI mag TTIP aus seiner Sicht zustimmen, allerdings repräsentiert der Industrieverband nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Die Interessen der Mehrheit werden gezielt torpediert.

Bitte nicht missverstehen, das soll beileibe keine Rechtfertigung sein, aber es hat schon seinen Grund, wenn in den USA jemand wie Donald Trump Präsidentschaftskandidat werden kann und in Europa Rechtspopulisten auf dem Vormarsch sind. Das Establishment hat viel zu lange die Interessen der einfachen Bürger krass vernachlässigt. Die Sozialdemokratie, einst der natürliche Verbündete des "kleinen Mannes", ist zu einer Karikatur ihrer selbst mutiert. Ich will nicht behaupten, dass Rechtspopulisten die Lösung wären, sie bieten sicherlich alles andere als das, aber den Wilders, Le Pens, Meuthens oder Straches kommt der Frust und die Wut der politisch heimatlos Gewordenen zugute. Das sind die, die weder über Briefkastenfirmen in Steueroasen verfügen noch sich über den Beistand hochbezahlter Anwaltskanzleien erfreuen dürfen, stattdessen mit hohen Mieten und prekären Arbeitsverhältnissen zu kämpfen haben. Traditionell eigentlich die klassische Klientel der Linken, die aber - warum auch immer - von der Protesthaltung nicht zu profitieren vermag.

"Die verkaufen uns." Richtig! Aber es sind die Eliten diesseits und jenseits des Atlantiks, die jeweils ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger verkaufen. Profitieren tun hauptsächlich die Reichen, während die Mittelschicht erodiert: In Deutschland verfügen "die oberen zehn Prozent der Haushalte über 51,9 Prozent des Nettovermögens und die unteren 50 Prozent über ein Prozent. In den USA entfallen auf die Mittelschicht nur noch 43 Prozent des Nationaleinkommens - 1970 waren es noch 62 Prozent." [10] Auswirkungen der neoliberalen Rezepte. 2014 hat man das 20-jährige Bestehen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) gefeiert, gewissermaßen der Prototyp für CETA und TTIP. Die Bilanz ist ernüchternd: Angeblich sollte das Abkommen Arbeitsplätze schaffen, aber obgleich sich das Handelsvolumen von Kanada, den USA und Mexiko verdreifacht hat, gingen in den USA nach Angaben der amerikanischen Verbraucherschutzorganisation Public Citizen durch Nafta rund eine Million Arbeitsplätze verloren. "Während sich die Löhne im Durchschnitt auf dem Niveau von 1979 bewegen, ist die Einkommensungleichheit massiv gestiegen. Seit Nafta ist das Einkommen der reichsten zehn Prozent der US-Amerikaner um 24 Prozent gewachsen und das der reichsten ein Prozent sogar um 58 Prozent." [11] Es gab damals bei NAFTA die gleichen uneingelösten Versprechen wie heute in Bezug auf CETA und TTIP. Solchen Freihandelsabkommen liegt folglich nicht der Kampf USA gegen Europa zugrunde, sie sind vielmehr Ausfluss der Interessengegensätze zwischen oben und unten. Die Eliten sind dafür, die Mittelschicht wird mehr oder minder elegant über den Tisch gezogen. Und bezahlen werden am Ende die, die ohnehin nicht viel besitzen. Rechtspopulisten sind aber, allen rhetorischen Bekundungen und ihrer demonstrativ gepflegten Anti-Establishment-Attitüde zum Trotz, ganz gewiss die Letzten, die daran etwas ändern werden.

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[1] tagesschau.de, Deutschlandtrend vom April 2016
[2] Spiegel-Online vom 21.04.2016
[3] Europäische Kommission, Pressemitteilung vom 29.02.2016
[4] Deutsche Welle vom 02.05.2016
[5] Süddeutsche vom 01.05.2016
[6] n-tv vom 16.09.2015
[7] Die Welt-Online vom 09.08.2015
[8] Süddeutsche vom 03.05.2016
[9] Zeit-Online vom 28.01.2016
[10] Zeit-Online vom 18.02.2016
[11] Der Tagesspiegel vom 06.12.2014