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14. Mai 2016, von Michael Schöfer
Verzweiflungsakt oder Befreiungsschlag?

Der österreichische Bundeskanzler hat nicht die gleiche Stellung wie der in Deutschland, so besitzt er beispielsweise keine Richtlinienkompetenz (die Macht, die Richtung der Regierungspolitik zu bestimmen) und wird auch nicht vom Parlament (dem Nationalrat) gewählt. In Österreich ernennt der Bundespräsident den Regierungschef, die Ernennung bedarf keiner nachträglichen Bestätigung durch das Parlament. (Artikel 70 Bundes-Verfassungsgesetz) Der Nationalrat kann aber der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder das Misstrauen aussprechen, was zwingend zur Amtsenthebung führt. (Artikel 74 Bundes-Verfassungsgesetz) Der Bundespräsident kann darüber hinaus den Bundeskanzler ganz ohne Zutun des Nationalrats entlassen. Das macht die zweite Runde zur Wahl des Bundespräsidenten am 22. Mai so brisant, weil FPÖ-Kandidat Norbert Hofer im Widerspruch zur Parlamentsmehrheit einen Bundeskanzler aus den Reihen der FPÖ ins Amt hieven könnte. Da der österreichische Bundespräsident obendrein auch noch den Nationalrat auflösen darf (Artikel 29 Bundes-Verfassungsgesetz) und es dann Neuwahlen gäbe, befürchten manche das Schlimmste. Und das Schlimmste wäre in diesem Fall die Machtübernahme durch die rechtspopulistische FPÖ.

Die österreichische Sozialdemokratie ist, ebenso wie die im übrigen Europa, in der Krise. Sie verliert bei den Wählerinnen und Wählern immer mehr an Zuspruch (seit 2008 hat sie bei 18 von 20 Wahlen herbe Verluste erlitten). Kürzlich musste deshalb Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) zurücktreten, die Niederlage des SPÖ-Kandidaten in der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl (lediglich Platz 4 mit enttäuschenden 11,3 %) brachte das Fass zum Überlaufen. Faymann habe sich nur noch an der Macht halten wollen, hieß es. Er sei phantasielos und ohne Fortune. In der Tat hat er beispielsweise in der Flüchtlingspolitik innerhalb von wenigen Wochen eine erstaunliche Wende um 180 Grad vollzogen. Außerdem habe Faymann nur Ja-Sager um sich geschart und in der SPÖ jede kritische Diskussion erstickt. Innerparteiliche Debatten wurden als störend empfunden und andere Argumente geflissentlich ignoriert. Jetzt liegt das Kind im Brunnen.

Aktuellen Umfragen zufolge liegt die FPÖ derzeit in der Wählergunst mit 34 Prozent auf Platz 1, die Regierungsparteien weit abgeschlagen dahinter (SPÖ 21 %, ÖVP 22%), weshalb Letztere Neuwahlen unbedingt vermeiden wollen. Die SPÖ hat sich mittlerweile auf Christian Kern als Nachfolger von Werner Faymann geeinigt. Kern wird also demnächst österreichischer Bundeskanzler, gleichzeitig übernimmt er bei den Sozialdemokraten den Parteivorsitz. Der 50-jährige Wiener ist gelernter Journalist und war danach in der Wirtschaft tätig - zunächst als Manager beim größten Stromanbieter Österreichs, ab 2010 als Vorstandsvorsitzender der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB). Kern gilt als unideologisch und pragmatisch. Ein Erfolgsmanager, weil er die ÖBB aus den roten Zahlen geholt hat (EBITDA =  operativer Gewinn 2015: 1.806 Mio. €). Kaum ein Zeitungsartikel kommt ohne Hinweis auf seine perfekt sitzenden Anzüge aus, obendrein sei er stets höflich und soll cholerische Anfälle zutiefst verachten.

Auf den ersten Blick eine gute Wahl. Doch genau da, beim Terminus "Wahl", liegt der Hase im Pfeffer: Christian Kern wurde nämlich im Hinterzimmer ausgekungelt, daran waren vermutlich höchstens eine Handvoll Parteifunktionäre beteiligt. Ein politisches Wahlamt besaß Kern noch nie. Vor seinem Wechsel ins Management des Stromversorgers war er Assistent des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt und anschließend Büroleiter sowie Pressesprecher des SPÖ-Fraktionsvorsitzenden im Nationalrat. Mit anderen Worten: Da wird jemand Bundeskanzler, der zweifellos über exzellente politische Kontakte verfügt, sich jedoch noch nie einem Wählervotum stellen musste. Ungeachtet der Qualitäten, über die Kern verfügen mag, ist das unter demokratischen Gesichtspunkten höchst bedenklich. Auch in Österreich geht, zumindest formal, alle Staatsgewalt vom Volke aus. Doch künftig werden unsere Nachbarn von einem Kanzler regiert, der ohne eine einzige Wählerstimme quasi durch den Seiteneingang ins Amt gelangt. Wen das Volk will, ist offenkundig sekundär. Geht der Plan der rot-schwarzen Koalition auf, wird Kern erst einmal bis zu den nächsten regulären Wahlen im Herbst 2018 regieren.

Die SPÖ macht damit womöglich einen Riesenfehler, denn ob das Volk diese antiquierte Hinterzimmerpolitik goutiert, wage ich zu bezweifeln. Wie auch immer, jedenfalls ist das Ganze ein Spiel mit hohem Risiko. Christian Kern ist vielleicht ein erfolgreicher Manager, aber ein Staat ist schließlich keine Firma. Geht das Experiment schief, könnte gleich die ganze Partei über die Wupper gehen. Andererseits steht die SPÖ angesichts ihrer bisherigen Politik ohnehin mit dem Rücken zur Wand. Kurz gesagt, sie hat nicht mehr allzu viel zu verlieren. Und gelegentlich mutieren Verzweiflungsakte zu echten Befreiungsschlägen. Wetten würde ich darauf allerdings keine annehmen.