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| Impressum 05. Juni 2016, von Michael Schöfer Bitte vorher genau hinschauen Manchmal weiß man es ja nicht so genau: Ist das Ganze bloß ein Witz oder ist es ernst gemeint? Sind die wirklich so oder wollen die nur mediale Aufmerksamkeit? Ich fürchte jedoch, die sind so, die meinen das tatsächlich ernst. Die niedersächsische AfD-Jugend stößt sich an einer Kampagne zur Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat nämlich bundesweit 65.000 Plakate mit Comic-Zeichnungen aufhängen lassen. Doch die AfD-Jugend meint, das sei strafbar, weshalb sie Anzeige wegen Verbreitung pornografischer Schriften (§ 184 StGB) erstattet hat. [1] "Bundesregierung lässt Sex-Plakate aufhängen", echauffiert sie sich auf ihrer Website. Für die Aufklärungsarbeit sei "es keinesfalls notwendig, tausende von nackten Cartoon-Figuren beim Geschlechtsakt im öffentlichen Raum zu plakatieren und damit die Hypersexualisierung unserer Kinder weiter voranzutreiben". Der Bundesgerichtshof hat Pornografie wie folgt definiert: "Als pornografisch ist eine Darstellung anzusehen, wenn sie unter Ausklammerung aller sonstigen menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher, anreißerischer Weise in den Vordergrund rückt und ihre Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf das lüsterne Interesse des Betrachters an sexuellen Dingen abzielt." [2] Ob die Plakataktion der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gemäß dieser Definition als Pornografie zu werten ist, kann man wohl mit Fug und Recht verneinen. Aber das Ansinnen der AfD-Jugend ist kein bizarrer Ausreißer, in der Alternative für Deutschland ist eine rigide Sexualmoral offenbar weit verbreitet. Um nicht missverstanden zu werden: Jedem bleibt seine eigene Moral unbenommen. Einschränkung: Solange er nicht den Versuch unternimmt, anderen die eigenen Moralvorstellungen aufzuzwingen. Doch genau diese Gefahr sehe ich bei der AfD. Im Landtag von Sachsen-Anhalt hat die Landtagsabgeordnete Henriette Quade (Linke) die Zustände in den Maghreb-Staaten kritisiert. Eigentlich ging es darum, ob Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten einzustufen sind. Dem Landtagsprotokoll zufolge sagte Quade: Bei konkreter Betrachtung sind "die in Rede stehenden Länder eben keineswegs sicher. Insbesondere für Homosexuelle ist die Sicherheitslage mehr als prekär. Sie ist verboten und in höchstem Maße tabuisiert. Wer Homosexualität offen auslebt, dem droht dafür eine Gefängnisstrafe." Der AfD-Landtagsabgeordnete Andreas Gehlmann reagierte darauf mit dem Zwischenruf: "Das sollten wir in Deutschland auch machen!" Natürlich ist die AfD wieder einmal gründlich missverstanden worden. Wie so oft. Gehlmanns Zwischenruf beziehe sich "ausschließlich auf das Wort 'tabuisiert'. Er wolle also Homosexualität weder verbieten, noch Homosexuelle mit Gefängnisstrafen belangen." [3] Das kennen wir ja inzwischen zur Genüge: Erst provozieren und anschließend das Unschuldslamm spielen. Es gibt Belege, bei denen solche Ausflüchte weniger verfangen: "Das klassische Rollenverständnis von Mann und Frau soll durch staatlich geförderte Umerziehungsprogramme in Kindergärten und Schulen systematisch 'korrigiert' werden. Die AfD lehnt diese Geschlechterpädagogik als Eingriff in die natürliche Entwicklung unserer Kinder und in das vom Grundgesetz garantierte Elternrecht auf Erziehung ab", schreibt die Partei in ihrem Grundsatzprogramm. Und sie beklagt: "Ein falsch verstandener Feminismus schätzt einseitig Frauen im Erwerbsleben, nicht aber Frauen, die 'nur' Mutter und Hausfrau sind." [4] In ihrem Landtagswahlprogramm für Baden-Württemberg verlangt sie daher: "Die AfD fordert, die Familie in Schulbüchern positiv und realitätsnah darzustellen." [5] Die Umerziehung, die sie dem Staat unterstellt, die aber in Wahrheit gar nicht stattfindet, beabsichtigt die AfD offenbar selbst. Natürlich in ihrem rückwärtsgewandten Sinne, schließlich wurzelt das klassische Rollenverständnis (der Mann bringt das Geld nach Hause, die Frau kümmert sich um Haushalt und Kinder) in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die gesellschaftliche Realität (= Abkehr vom klassischen Rollenverständnis), die ja den Menschen nicht aufgezwungen wurde, sondern die sie aus freien Stücken selbst gewählt haben, ist der AfD ein Dorn im Auge. Und all das, was sie ablehnt, soll möglichst aus dem Blickfeld verschwinden. Selbstverständlich hat jeder das Recht, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und kann dabei gerne die Hausfrauenehe propagieren. Wer unbedingt will, darf sogar zurück zur Prüderie der Nachkriegsjahre. Es gilt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz). Wenn freilich diese Lebensweise anderen aufgepfropft werden soll und bei denen dann als Eingriff in deren Persönlichkeitsrecht ankommt, ist ein klares Stoppsignal notwendig. So nicht! Es kommt aber noch besser: "Die Bühnen des Landes Sachsen-Anhalt sollen neben den großen klassischen internationalen Werken stets auch klassische deutsche Stücke spielen und sie so inszenieren, dass sie zur Identifikation mit unserem Land anregen", schreibt die AfD in ihrem Landtagswahlprogramm für Sachsen-Anhalt. Kurioserweise wendet sie sich gleichzeitig "entschieden gegen (...) Sprachvorgaben in Ministerien, öffentlichen Einrichtungen, Medien und Schulen." Sprachvorgaben im Sinne der von ihr abgelehnten "Gender- und Gleichstellungsideologie", versteht sich. [6] Anders ausgedrückt: Sprachvorgaben sind zu befürworten, solange sie der AfD ideologisch in den Kram passen. Die, wie sie es nennt, "Pflege der deutschen Leitkultur" wäre jedoch ein Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Kunstfreiheit (Artikel 5 Abs. 3 Grundgesetz). Die offenkundige Widersprüchlichkeit ist bei der AfD ein immer wiederkehrendes Muster: Kunstfreiheit ja, aber die Theater sollen gefälligst auch klassische deutsche Stücke spielen. Außerdem: Was ist überhaupt klassisch? Nur Goethe und Schiller? Oder auch Brecht und Zuckmayer? Vorgaben, was auf den Bühnen aufzuführen ist, gab es in Deutschland zuletzt in der Zeit vor 1945. Und von dort ist der Weg bis zur "entarteten Kunst" nicht mehr weit. Das Gleiche begegnet uns bei der ebenfalls grundgesetzlich geschützten Forschungsfreiheit. "Die Freiheit von Forschung und Lehre sind unabdingbare Grundvoraussetzungen für wissenschaftlichen Fortschritt", heißt es in ihrem Grundsatzprogramm auf Seite 52. Zugleich will sie allerdings die "Förderung der 'Gender-Forschung' beenden und "bestehende Genderprofessuren" nicht mehr nachbesetzen sowie "laufende Gender-Forschungsprojekte" nicht weiter verlängern. Freiheit der Forschung ja, aber bitte nicht auf dem Gebiet der Gender-Forschung. Gender-Mainstreaming ist übrigens lediglich eine Strategie zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und obendrein Verfassungsauftrag: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." (Artikel 3 Abs. 2 Grundgesetz) In meinen Augen riecht das, was man von der AfD hört und liest, nach verfassungswidriger Bevormundung. Und hoffentlich bekommt sie nie die Gelegenheit, ihre kruden Vorstellungen in die Tat umzusetzen. "Den größten Rückhalt hat die AfD unter Arbeitern und Arbeitslosen, den geringsten unter Rentnern." Und sie ist "bei Männern deutlich beliebter als bei Frauen. (…) Besonders stark ist die AfD bei Männern jüngeren und mittleren Alters." Darüber hinaus hat sie zahlreiche Nichtwähler mobilisiert. [7] Angeblich wissen viele gar nicht, was die AfD überhaupt will, die Kenntnis ihres Programms tendiere unter ihrer Wählerschaft gegen Null. Sie sei momentan eben eine reine Protestpartei. Ob es beispielsweise den Arbeitern und Arbeitslosen nutzt, wenn die AfD "die derzeit zur Erhebung ausgesetzte Vermögensteuer und die Erbschaftsteuer abschaffen" will (Seite 75 des Grundsatzprogramms), wage ich zu bezweifeln. Kontraproduktiv für alle, die die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich anprangern. Die Abschaffung der Erbschaftsteuer würde alle oberhalb der gegenwärtig gültigen Freibeträge begünstigen, die betragen bei Ehegatten 500.000 € und bei Kindern 400.000 €. Arbeiter und Arbeitslose zahlen daher im Regelfall gar keine Erbschaftsteuer. Aber irgendwoher muss das, was die Partei an finanziellen Zuwendungen verspricht, logischerweise hereinkommen. Die Staatsschulden will sie ja ebenfalls tilgen. Die von ihr geforderte "umfassende Reform des Steuerrechts", die ein "einfacheres und gerechteres Steuersystem" bringen soll, das angeblich "mit niedrigen Steuern vor allem Mittel- und Geringverdiener finanziell entlastet", bleibt, was die konkrete Finanzierung angeht, diffus. Das Vorhaben der AfD käme vielmehr einer Quadratur des Kreises gleich: Schuldenabbau, Mehrausgaben (z.B. Stärkung von Polizei und Bundeswehr), Steuerentlastungen bei Vermögenden, Mittel- und Geringverdienern. Obendrein will sie noch eine Reform der sozialen Sicherungssysteme durchsetzen. Die Gesetze der Mathematik lassen sich bekanntlich nicht außer Kraft setzen. Ich fürchte, da wird sich noch so mancher wundern. Ein bisschen erinnert mich Letzteres an die Umfragen in Bezug auf den Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der EU. Es könnte knapp ausgehen, denn wer am 23. Juni beim Referendum gewinnt, ist Demoskopen zufolge nach wie vor offen. Es steht Spitz auf Knopf. "Laut den Umfrage-Instituten wird viel von der Wahlbeteiligung und der Mobilisierung der jungen Wähler abhängen. Während mehr als 80 Prozent der Briten über 65 angeben, sie würden mit Sicherheit abstimmen, liegt die Zahl bei Wählern im Alter zwischen 18 und 24 Jahren bei lediglich 47 Prozent. Unter älteren Briten ist die Zustimmung zum Austritt deutlich höher, während eine große Mehrheit der jungen Wähler der EU wohlgesonnen ist." [8] Wer sich bei der Wahlbeteiligung vornehm zurückhält, schadet sich dadurch bloß selbst, weil am Ende vielleicht die anderen siegen. In Großbritannien müssten deshalb die Jüngeren schon aus purem Eigeninteresse massenhaft zu den Wahlurnen strömen. Tun sie es nicht, setzen sich womöglich die Älteren durch. Jammern wird dann freilich nicht mehr helfen. Übertragen auf die AfD heißt das: Bitte vorher genau hinschauen, ob das, was die AfD will, auch tatsächlich den eigenen Interessen entspricht. Und falls nicht, sollte man etwas anderes wählen. ---------- [1] Berliner Zeitung vom 27.05.2016 [2] Bayerische Landeszentrale für neue Medien, Grundbegriffe des Jugendmedienschutzes [3] Spiegel-Online vom 03.06.2016 [4] AfD, Programm für Deutschland, Seite 41 und 55, PDF-Datei mit 373 kb [5] AfD, Landesverband Baden-Württemberg, Landtagswahlprogramm 2016, Seite 30, PDF-Datei mit 3,2 MB [6] AfD, Landesverband Sachsen-Anhalt, Wahlprogramm zur Landtagswahl am 13. März 2016, Seite 20 und 32, PDF-Datei mit 571 kb [7] FAZ.Net vom 14.03.2016 [8] Süddeutsche vom 03.06.2016 |